Die Lostprophets sehen nach etlichen Jahren Licht am Ende des Horizonts. Die neue Platte ist endlich fertig – und Ian Watkins und seine Kollegen machen drei Kreuze.

London hat, im Grunde, ein ganz ausgezeichnetes öffentliches Verkehrsnetz. Doch egal in welchem Fortbewegungsmittel man sitzt: man kann sich nie hundertprozentig sicher sein, pünktlich anzukommen. Das älteste U-Bahnnetz Europas ist immer noch anfällig für Signalstörungen. Für die Olympischen Spiele in drei Jahren wirkt hektisch renoviert. Nicht umsonst stehen an jedem Bahnhof Infotafeln, auf denen vermerkt ist, auf welchen Linien heute “good service” herrscht. Und wenn, wie an diesem wunderschönen Frühherbstwochenende, in der flirrend-hektischen Innenstadt etliche Straßen wegen Wasserleitungs- und Kanalbauarbeiten aufgerissen werden, wird der Trip per Bus zum Langzeitprojekt.

In dieser hitzigen Geschäftigkeit der Millionenstadt geht die Wichtigkeit eines Konzertes immer ein bisschen unter. Am Freitag Nachmittag stehen sich eine Handvoll Teenies, die meisten weiblich, vor dem HMV-Forum in Camden die Beine in den Bauch. Die pralle, warme Nachmittagssonne schüttet sich über die engen Straßen des Szeneviertels und seine Bewohner, die zwischen Cafés, orientalischen Tabakläden, Musikgeschäften und Modeboutiquen hin- und herrotieren.

Mitten in dieser malerischen Metropolenszenerie, im Backstage des Forums, haben die Lostprohets endlich Pause. Der Soundcheck ist erledigt, die Dreharbeiten fürs neue Video sind im Kasten. Nur eine Plauderstunde mit zwei Schreibfachkräften aus Deutschland steht noch auf dem Programm. Keyboarder Jamie Oliver, ein Ausbund an Höflichkeit, steckt immer wieder den Kopf ins kleine Wartezimmer mit der typischen Londoner Aussicht auf graue Hinterhöfe durch viel zu enge Fenster. “Wollt ihr noch was trinken? Geht gleich los, keine Sorge!”

Er, Bassist Stuart Richardson und Gitarrist Mike Lewis sitzen dann kurze Zeit später startklar auf der Couch.

Für die sechs Rocker, die ihre Band im kleinen walisischen Pontypridd aus der Taufe hoben, ist es eine spannende Zeit. Nach den Charterfolgen auf der Insel soll endlich der Durchbruch in Resteuropa gelingen. Wer das nicht schafft, so lehrt uns die Geschichte immer wieder, bleibt meistens eine Inselkuriosität und schafft keine kommerziellen Großtaten mehr.

Die Voraussetzungen wären gut. Nur: das waren sie ja eigentlich schon seit langer Zeit. Der erste Großhit im UK, “Last Train Home” von 2004, hätte die Band auch woanders voranbringen können. Ihr Rock ist, im ganz wertneutralen Sinn, massentauglich. Eingängig, gefällig, ohne Kanten. Immer wieder werkelten sie an dem perfekten Rocksong. Immer wieder kamen sie diesem Ziel, durch Singles wie “Rooftops” oder “Can’t Catch Tomorrow”, näher als die Leute zugeben wollten, die sich über den glatten Sound oder den aufgebrezelten Modemagazin-Look der Waliser echauffierten.

Und hinter der Band liegen kräftezehrende Jahre. Seit 2007 waren sie mit der Albumproduktion zu Gange, dass nun unter dem Titel “The Betrayed” in die Läden kommt. Und die Betrogenen, resümiert Oliver auf dem schwarzen Sofa im Backstage, “das sind im Grunde wir selbst.” Jahrelang raufte man sich mit Produzent John Feldman im Studio, nur damit am Ende fast alle Aufnahmen in der Mülltonne landeten. In der USA trennte man sich von Columbia Records, die nicht mehr so recht an den Erfolg glauben mochten.

Also griff man zum finalen Rettungsring: Album in Eigenregie produzieren. Bassist Richardson, der breitbeinig mit den Händen in den Hosentaschen in der Mitte des Sofas thront und sein Walisisch durch ein betont lässiges Nuscheln ‘perfektioniert’, setzte sich hinter die Studioregler. Er hatte schon die EPs in den späten Neunzigern produziert. “Im Grunde weiß ich doch am besten, wie die Band klingen muss.” So geschah es und die Band wurde glücklich damit. Das einzige Manko laut Oliver: “Wir wussten oft nie, mit wem wir gerade reden: Stu dem Basisten oder Stu dem Produzenten.”

Trotzdem hat “The Betrayed” viel von dem Frust abbekommen, den die Band jahrelang mit sich herumschleppte. “Das Album ist im Grunde ein Spiegel zum Vorgänger.” Wo “Liberation Transmission” (2006) Optimismus und Kampfgeist kultivierte, regiert auf dem aktuellen Album verbiesterter Trotz. Die dunkle Seite, sozusagen. Einer der Songs heißt: “If It Wasn’t For Hate, We’d Be Dead By Now.” Aber keiner der alten Fans braucht Angst zu haben: musikalisch bleibt alles beim Alten.

Später am Abend, beim ausverkauften Konzert, ist es mehr das Kreischen der Mädchen als das Brüllen der Jungs, das man hören kann. Dafür, dass Sänger Ian Watkins Texte schreibt, die häufig so zerknirscht und aufs eigene Gefühlsleben fixiert klingen, ist er live ein ganz schöner Zotenreißer. Drummer Luke Johnson, erst seit kurzem mit dabei, drischt bei “Were We Belong” auf seine Becken ein, als wolle er ein heranstürmende Ork-Armee aus den Herr der Ringe-Filmen abwehren… Jamie Oliver hat, wie viele Keyboarder in Rockbands, ein bisschen die Arschkarte gezogen. Gibts mal nichts zu spielen, muss man die Lücke mit hyperventilierender Luftgitarrenakrobatik füllen.

Man grübelt. Da steht eine nette Band, die ihre Arbeit beherrscht. Und doch muss man sich fragen, ob es da irgend etwas gibt, was sie besonders macht. Man sucht nach dem Alleinstellungsmerkmal und findet doch eher sympathische Verträglichkeit mit dem Mainstream. In ihrer Heimat spielten sie als Jugendliche gerne die Rebellen. Richardson lief mit verwaschenem Blag Flag-T-Shirt durch die Gegend und holte sich oft saftige Strafen für derbe Jugendstreiche ab. Aber geht das überhaupt noch? Welche Musik, welches Outfit, welcher Habitus kann heute noch schocken? Oliver redet fast wie ein Politiker auf Stimmenfang, gestikulierend, empathisch: “Unsere Fans wissen, was sie an uns haben. Sie wissen: was wir tun ist wahrhaftig, unsere Musik ist wahrhaftig, was wir darstellen ist wahrhaftig!” Man muss ihm das glauben. Er und seine Kollegen tun es ganz fest.

Ich denke an einen Gitarrenspieler an der Haltestelle Green Park auf der Piccadilly Line, die ebenfalls bebaut wird. Kein “Good Service” dieses Wochenende. Der Sound quäkte aus einem winzigen Transistorverstärker auf dem Boden, in der brauen Mütze ein paar britische Pens. Er spielte wirklich gut, wie ein Profi. Es gibt doch Schlimmeres, als von Menschen als Musiker nicht Ernst genommen zu werden. Die Lostprophets leben den Traum, der für so wenige Menschen in Erfüllung geht: von Musik leben zu können. “Glaub mir, dafür sind wir dankbar. Jeden Tag.”

Ja, auch das glaube ich ihm.

Gordon Gernand

VÖ: 29.01.10

Label: Sony Music

Tracklist:
01. If It Wasn’t For hate We’d Be Dead By Now
02. Dstryr And Dstryr
03. It’s Not The End Of The World But I Can See It From 0Here
04. Where We Belong
05. Next Stop Atro City
06. For He’s A Jolly Good Felon
07. A Better Nothing
08. Streets Of Nowhere
09. Dirty Little Heart
10. Darkest Blue
11. The Light That Burns Twice As Bright