Setzt man sich mit elektronischer Musik in Deutschland auseinander, kommt man über kurz oder lang nicht an Matthias Tanzmann vorbei. Was der DJ/Produzent/Label-Gründer seit dem ersten Gartenparty-Gig erlebt hat, erzählt er im ausführlichen motor.de Interview.


motor.de:
2000 warst Du Mitbegründer des Labels Moon Harbour Recordings, mittlerweile einer festen Adresse im Bereich deutscher Deep House/Minimal/Elektro. Zu dieser Zeit bist Du auch schon als DJ erfolgreich durch die Lande gezogen. Bis es soweit war, musste jedoch einiges passieren. Lass uns bei Deinen musikalischen Wurzeln anfangen – welche Musik hat Dich in der Jugend geprägt?

Tanzmann: Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht in eine bestimmte Richtung geprägt gewesen. Ich war ein Pop-Musik-Kind. Ich kann mich noch erinnern: Das erste was ich zur Wende, da war ich 12, von meinem Begrüßungsgeld gekauft hab, war neben dem Hifi-Turm, den damals fast jeder hatte, eine Abba-Kassette. Im Nachhinein ein Glücksgriff, denn Abba sind immer noch gut, es hätte etwas wesentlich Schlimmeres sein können (lacht).

motor.de: Das war aber sicher nicht die Inspiration in Richtung DJ-Karriere?

Tanzmann: Definitiv nicht. Wirklich prägend wurde es, als ich mit 16 oder sogar 15 das erste Mal in der Basis (einer der frühen Leipziger Elektroclubs – Anm. d. Red.) gelandet bin und dort die ersten Techno-Partys besucht habe. Von da an war ich zunehmend in Richtung elektronische Musik eingeschossen. Dann kam ein Freund aus der Nachbarschaft dazu, der schon angefangen hatte Musik zu produzieren. Bei ihm im Kinderzimmer begannen wir, erste Tracks zu basteln und auf fürchterlichen Technics-Nachbauten Auflegen zu üben.

motor.de: Wie muss man sich das genau vorstellen?

Matthias Tanzmann über seine ersten musikalischen Gehversuche

motor.de: Aus dieser Zusammenarbeit entstand dann Dein erstes Projekt “Gamat 3000”. Parallel hast Du auch als DJ angefangen. Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Gig erinnern?

Tanzmann: Den ersten “richtigen” Auftritt hatte ich 1996 in der Leipziger Innenstadt. Das passierte ganz spontan. Ich glaube, ich wurde am Tag davor, wenn nicht sogar am selben Tag angesprochen… Das aber vermutlich wirklich erste Auflegen fand mit einem Freund bei einer Gartenparty statt.

motor.de: Also war 1996 DAS Jahr?

Tanzmann: Genau. Da ging es total ab (lacht) – im selben Jahr hab ich auch erstmals in der Leipziger Distillery aufgelegt, ab 1997 dann regelmäßig.

motor.de: Wie ging es weiter?

Tanzmann: Als ich angefangen hab mit Auflegen, war es ein Traum, irgendwann mal im Tresor zu spielen. Ich dachte: “Wenn du irgendwann mal dort spielst, dann hast Du es geschafft. Was willst Du mehr im Leben.” Das kam dann aber doch überraschend schnell, ich glaube schon 1999, im Rahmen eines DJ-Austauschs zwischen Leipzig und Berlin. Auch sonst vermehrten sich die deutschlandweiten Gigs und so nahm meine DJ-Laufbahn, wenn man so sagen will, zunehmend professionellere Züge an. Dank unserer Veröffentlichungen kam auch Aufmerksamkeit aus dem Ausland und ab circa 2001/2002 die ersten Bookings außerhalb Deutschlands hinzu. Mittlerweile spiele ich sogar mehr im Ausland als hierzulande.

motor.de: Welche Unterschiede in der weltweiten elektronischen Musikszene sind Dir aufgefallen?

Tanzmann: Es gibt riesige nationale Unterschiede! In Mitteleuropa ist die Szene am weitesten entwickelt. Deutschland ist der Hauptmarkt für elektronische Musik. Hier sitzen alle Vertriebe und es gibt auch noch die meisten Vinylkäufer. In Spanien beispielsweise wird kaum Musik verkauft, aber dafür umso mehr gehört. Auch in Italien und England sind die Leute extrem Party begeistert. Aber wenn man nach Ost-Europa schaut, da sieht es noch etwas anders auch. Obwohl der Osten in den letzten fünf Jahren enorm aufgeholt hat – es tritt sogar schon eine erste Sättigung ein.

motor.de: Einige der exklusivsten Bookings in der Welt, verdankst Du dem Goethe-Institut. Was gibt es zu dieser Zusammenarbeit zu berichten?

Tanzmann: Als die Anfrage kam, für das Goethe-Institut als Botschafter deutscher Kultur zu reisen, war ich natürlich schon im ersten Moment geehrt und überrascht. Man kennt ja beispielsweise die Bücher von Hans Nieswandt, der jedoch die noch wahnsinnigeren Dinge erlebt. Er fährt streckenweise als Allererster in fremde Länder, um dort die Lage zu sondieren…

motor.de: Welche wahnsinnigen Erfahrungen hast Du gemacht?

Tanzmann: Bei mir fing es weniger spektakulär 2005 oder 2006 in Frankreich an, wo ich für zwei Gigs als Repräsentant deutscher minimaler Musik gebucht wurde. Im Jahr darauf bin ich dann in China, Australien und Neuseeland gewesen und das war schon unglaublich.

motor.de: Was ist das einprägsamste Erlebnis bisher im Ausland gewesen?

Matthias Tanzmann über seine Erlebnisse in China

motor.de: Du hast vorhin schon den Vinylmarkt angesprochen. Welche Entwicklungen beobachtest Du? Wird Vinyl sterben?

Tanzmann: Musik hat an ihrer Wertigkeit eingebüßt. Sowohl Konsumenten, aber auch DJs kaufen weniger bis gar keine Musik mehr. Das ist aber nicht überall so. Beispielsweise Japan scheint einer der letzten funktionierenden Musikmärkte zu sein. Dort kaufen die Leute noch Musik. Es gibt nur einen geringen Anteil, der Titel illegal herunterlädt. Wenn man im Gegensatz dazu Spanien betrachtet – dort hat Musik überhaupt keine Wertigkeit. Es ist Gang und Gebe, sich Musik kostenlos zu besorgen und zu tauschen – eine ganz andere Mentalität also.
In Deutschland liegen wir irgendwo dazwischen. Aber auch hier haben sich die Verhältnisse geändert. Allein wir als Label, wie sicher auch alle anderen, haben den Umbruch in der Musiklandschaft sehr stark gemerkt. Die Verkaufszahlen sind extrem eingebrochen, mindestens 50 Prozent würde ich schätzen. Das stellt natürlich auch die Finanzierung der Label-Struktur in Frage.
Natürlich können Tauschbörsen die Industrie auch beflügeln. So bekommen zum Beispiel Bands eine Chance, die man früher nie bemerkt hätte. Ich finde aber, dass, wenn man ein Album heruntergeladen hat, es gut findet und entsprechend oft hört, sollte man es sich auch kaufen und so den Künstler respektieren und wertschätzen. Es ist nicht so, dass alle in ihren riesigen Villen hocken und gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrem ganzen Geld. So geht es bestimmt nur 0,01 Prozent der Musiker, der Rest muss schauen, wie er seine Miete bezahlt.

motor.de: Kaufst und schleppst Du selbst noch Platten ins Flugzeug?

Tanzmann: Kaufen ja. Aber auflegen tu ich nur noch mit Laptop und Traktor Scratch. Anders ist das einfach nicht mehr möglich. Einerseits liegt es am Reisen – wenn man bis zu fünf Gigs an einem Wochenende in unterschiedlichen Ländern spielt und nach dem zweiten dein Koffer nicht mehr nachkommt… Ich hatte Zeiten, da sind meine Platten für zehn Tage verschwunden gewesen. Zum anderen ist es natürlich mittlerweile so, dass man viele Sachen nicht mehr auf Vinyl bekommt; zumindest nicht rechtzeitig. Als DJ ist man ja immer bemüht, die neuesten, unveröffentlichten Tracks zu spielen und sich von befreundeten DJs oder Produzenten noch fünf Minuten vor dem Auftritt per Skype bequem die aktuellste Musik hin- und her zu schicken. Dieser Geschwindigkeit ist mit Schallplatten nicht hinterherzukommen. Und noch ein Punkt ist, dass zunehmend die Plattenspieler nicht mehr gewartet werden. Und so hat man als DJ den ganzen Abend nur Sorge und Ärger, wenn die Player nicht richtig laufen… Irgendwann kommt man zu dem Punkt, an dem man resigniert und den sicheren, digitalen Weg geht.

motor.de: Nun nochmal konkret zu Moon Harbour. Unter welchen Umständen kam es zur Labelgründung und wie hat sich alles entwickelt?

Matthias Tanzmann zur Entstehung von Moon Harbour Records:

motor.de: Auf welche Highlights blickst Du im weiteren Verlauf eurer Label-Geschichte zurück?

Tanzmann: Also es gab keinen großen Sprung, das Ganze ist durch die Kontinuität unserer Arbeit gewachsen. Dank der richtigen Entscheidung zum Vertrieb durch Intergroove, wurden unsere Platten über ein gutes Netzwerk weltweit verteilt, wenn auch sehr überschaubar außerhalb der Grenzen Deutschlands. Ansonsten kamen Stück für Stück neue Künstler hinzu, die Frequenz unserer Releases hat sich erhöht, letztes Jahr das erste Künsteralbum, Compilations…

motor.de: Stichwort Compilations – jetzt erscheint eure “Moon Harbour Inhouse Vol.3…

Tanzmann: Ja, die Inhouse-Reihe gibt es schon seit etwa fünf Jahren und das Konzept ist eine Art Labelschau zu veröffentlichen. Unsere Kern-Artists sowie befreundete Künstler aus dem Umfeld liefern ihre Beiträge ab und zeigen so den Status Quo unseres Hauses, makieren also den musikalischen Rahmen des Labels. Das erscheint einmal als Doppelvinyl und parallel dazu als DJ-Mix, der noch die wichtigsten Titel der letzten ein bis zwei Jahre integriert.

motor.de: Gibt es abschließend noch Zukunftswünsche oder -träume für Dich und Moon Harbour?

Tanzmann: Ich bin froh, wenn die Entwicklung so wie bisher weiter anhält. Für die anderen Moon Harbour-Künstler würde ich mich freuen, wenn auch deren Entwicklung voranschreitet, sie noch mehr Gigs bekommen, bekannter werden, reisen können… Ansonsten hoffe ich, dass die Zusammenarbeit weiter so gut läuft, wie bisher.

motor.de: Dann weiterhin viel Erfolg und danke für das ausführliche Interview.

Interviewer: Kai-Uwe Weser

Verlosung

Zur frischen Veröffentlichung von Inhouse Vol.3 (mixed by Martinez) verlost motor.de drei Exemplare der Compilation. Zum Mitspielen, einfach in das unten stehende Formular eintragen – wir wünschen viel Glück.