Eine Katze läuft durch den Wald und spielt Geige. Ein Schwarm klebriger, fleischiger Aliens mit Nippeln anstelle ihrer Augen, kommt aus den Tiefen des Ozeans hinausgekollert.
J. Mascis mit den Augen eines Teufels.
So sehen die bizarren Visionen aus, die sich Jonas Bjerre in seinen Alpträumen Nacht für Nacht aufdrängen – und seine Wege sie zu bekämpfen sind sehr unterschiedlich. Einige der Visionen wurden animiert und auf die Bühnenkulissen gestrahlt während Bjerres Band – die großartigen dänischen Space-Pop-Erfinder Mew – sich den Weg durch die komplexe und turbulente Geräuschkulisse vom skelettartigen Gitarren-Arpeggio bis hin zum welterschütternden Crescendo ebnet. Andere Phantasien, wie z.B. der in einem Baseball eingekapselte Mini-Roboter aus “The Zookeeper’s Boy” wurde zum Helden des popigsten Songs des grenzensprengenden neuen Albums im Jahr 2005.
“Die Idee stammt aus einem Traum, den ich mal hatte”, erklärt Jonas, bescheiden murmelnd. “Ich neige dazu nachts inspirierter zu sein. Einmal bin ich aufgewacht und hatte diese Idee. Ich weiß nicht so Recht, wovon die Texte handeln, es sind nur Bilder die ich im Kopf habe und ich beschreibe sie – es ist irgendwie surreal.”
Mew “irgendwie surreal” zu nennen ist ungefähr so, als würde man Bill Gates als “einigermaßen reich” bezeichnen. Wenn sich der in die Länge streckende und in die Höhe schießende Rock ihres dritten Durchbruchalbums “Frengers” (2003) – insbesondere die ekstatisch-eisigen Balletts “She Came Home For Christmas” und die NME Single der Woche “Comforting Sounds” – als eine Art Eiszeit-Märchen bezeichnen lässt (also quasi so etwas, was die Brüder Grimm nach einem Monat auf Tour mit den Hope Of The States geschrieben haben könnten), dann ist ihr viertes Album “Mew. and The Glass Handed Kites” ein noch größerer Sprung ins Unbekannte.
Das Konzept eines Albums – oder eher den Begriff “Konzeptalbum” – neu definierend ist “Mew. and The Glass Handed Kites” ein ausgefallener, 60-minütiger Rockschuss mitten ins Gehirn: schleudernde musikalische Ideen, deformierte Alptraumbilder und Herzschmerz-Chöre für den Zuhörer…obwohl es sich zunächst nur nach chaotischer Wildheit anhört. In der einen Minute segeln wir in Richtung Valhalla auf “Chinaberry Tree’s” Rock-Kreuzzug, in der anderen wurden wir von J. Mascis gefragt “Warum siehst du so ernst aus?”, in einer weiteren befinden wir uns mitten in einer ätherischen Ballade über sich versteckende Füchse. Zunächst einmal hört es sich an, als würden zehn unterschiedliche Bands zehn unterschiedliche Alben gleichzeitig spielen und wir würden in das Prozedere von einem verrückten Studiotechniker hinzu- und wieder weggeschaltet werden; wiederholtes Zuhören enthüllt allerdings ein außergewöhnlich einheitliches Endergebnis, welches den experimentellen Charakter eines “Kid A” und “Amnesiac” erfasst und mit Mew’s einmaligem, weltfremdem Leuchten füllt.
“Wir wollten, dass es ein langer Song wird”, sagt Bassist Johan Wohlert. “Es ist schwer das hinzukriegen und es ist eine Platte, die nicht einfach zum Anhören ist, aber sie wird euer Interesse über lange Zeit hinweg aufrechterhalten.”
“Es ist ein harter Brocken”, fügt Jonas hinzu. “Wir nahmen die Idee in Angriff, eine lange Reise auf der Platte vorzunehmen.”
“Wir wussten, dass wir das auf einigen Songs schon geschafft haben”, sagt Gitarrist Bo Madsen. “Wir hatte einige solcher Elemente schon auf “Frengers” eingebaut und wir wussten, dass das eine große Herausforderung für uns als Band werden würde das auf eine Länge von 60 Minuten auszudehnen, aber wir wussten auch, dass das etwas war, wovon wir schon immer geträumt hatten – ein ganzheitliches Konzept auf die Beine zu stellen, ein Meisterstück, das man sich in einer Reihenfolge anhören muss, von A bis Z, damit es einen Sinn ergibt. Es war verdammt schwer diese Platte zu machen, aber es war einfach etwas, das wir machen mussten. Wir hätten auch ein “Frengers Part Two” – Album machen können, aber das wäre nicht richtig gewesen. Wir gehen immer lieber die schwierigeren Umwege und das ist auch das, was allem diese Einmaligkeit verleiht, weil wir so so lange bei den Details verweilen. Einer der Gründe, warum es so einen Spass macht in dieser Band zu spielen, besteht darin die vorhandenen Strukturen in Frage zu stellen, zu hinterfragen, was im Kontext der Rockmusik alles gemacht werden kann. Es ist gut, wenn du versuchst die Grenzen der Band, im Hinblick auf die Kunst, und auch die Schranken deiner Wahrnehmung zu verdrängen. Beim ersten Mal denkst du noch, dass das doch Scheisse ist, aber wenn du zum zehnten Mal darauf zurückkommst, fängt es auf einmal an doch Sinn zu machen. Eine der Sachen, die uns besonders Spass macht, ist den Leuten aufzuzeigen, was doch alles machbar ist. Es wurde alles aus kleinen Teilchen zusammengefügt. Es war ein riesiges Puzzle, jenseits von allem, was wir jemals gemacht haben.”
Also wie kamen wir nun von einem einfachen Schulhof in Hellerup, Dänemark, zu einem bombastischen, mittelalterlichen, madrigalischen, abgespacten Operntrack mit dem Titel “Saviours Of Jazz Ballet”? Mew – vervollständigt durch Drummer Silas Graae – traf sich zum ersten Mal in der siebten Klasse, mit der Aufgabe betraut einen Film über das Ende der Welt für ein Schulprojekt zu drehen: der Film zeigte sie, wie sie den Film immer und immer wieder in Zeitlupentempo vorstellten. Einen gemeinsamen Sinn für Weltuntergangs-Kunst ineinander erkannt, wurden sie schon bald zu einer alternativen Clique in der Schule und zu einer Band – und das lange bevor irgendjemand von ihnen ein Instrument spielen konnte.
“Wir waren von Anfang an sehr ehrgeizig”, erzählt Jonas. “Wir waren nach ein paar Monaten dazu bereit, ein Album aufzunehmen.”
Nur leider war Dänemark noch nicht für sie bereit, und es war kurz nach ihrem verfehlten Outing als “Orange Dog” (sie wurden bei ihrem ersten Auftritt ausgebuht) und nach einem kurzzeitigen Amerikabesuch von Bo, dass die Band in ihren späten Teeniejahren als “Mew” zusammenkam.
Zu dieser Zeit arbeitete Jonas halbtags in einer Nachbearbeitungsfirma und nutzte die Werkstätten nach Feierabend um seine eigenen Animationen zu kreieren, die anschließend zu Teilen von Live-Auftritten wurden und die übermäßig langen, etwas
misstönigen Kompositionen überdeckten, die von My Bloody Valentine, Pixies, Dinosaur Jnr und merkwürdigerwesie auch von den Pet Shop Boys und Prince inspiriert wurden. Bei ihrem ersten Auftritt wurden sie von einem Agenten eines Buchverlages angesprochen, der so begeistert von ihnen war, dass er seine Firma davon überzeugte den kompletten Business Plan zu ändern und Mew’s Debütalbum “A Triumph For Man” (1997) aufzunehmen und zu veröffentlichen. Limitiert auf 2000 Exemplare ist es heute eine hochgehandelte Rarität und wurde in Dänemark bloß einige Wochen nach der Veröffentlichung zum entscheidenden Hit.
Zu dem Zeitpunkt als das zweite Album “Half The World Is Watching Me” im Jahre 2000 zur Veröffentlichung bereitstand, ging Mew’s Beziehung zu ihrem Label langsam in die Brüche und so gründete die Band ihr eigenes Label – Evil Office – um die Platte zu publizieren. Kaum brachten sie eine limitierte Auflage in Schweden heraus, schon wurden sie von Sony für einen weltweiten Deal unter Vertrag genommen und es wurde nicht nur entschieden ihre neue Platte zu veröffentlichen, sondern auch ihre bisher besten Songs für eine diesmal internationale Hörerschaft nochmals aufzunehmen.
Das Ergebnis war “Frengers”, ein zehnfacher Sprung bei den Verkaufszahlen und plötzlich fanden sich Mew in der “großen Zeit” von Ein-Bett-Zimmern, Londons abgeranzten Unterkünften und langatmigen Transit-Van-Fahrten wieder.
“Unsere gesamten Englanderfahrungen waren ziemlich krass”, erinnert sich Jonas. “Wir sind nach London gezogen und zu Beginn wussten wir nicht einmal, ob wir überhaupt Geld verdienen werden können, also sind wir in eine kleine 2-Zimmer-Wohnung gezogen. Wir haben jahrelang in einem Zimmer in Etagenbetten geschlafen. Wir sind manchmal nach Glasgow gefahren und dann den gesamten Weg zurück und haben dann in diesen Etagenbetten geschlafen. Diese Touren waren echt ermüdend.”
“Es hat uns fast umgebracht, aber wir haben es geschafft”, erzählt Bo. “Es hat uns darauf vorbereitet, wie es ist eine Tourband zu sein, es hat uns in den ganzen Rock’n’Roll – Zirkus eingeführt.”
Um das Kernstück ihres Markenzeichens – die Pop-Operetten (‘The Zookeeper’s Boy’, ‘The Seething Rain Weeps For You’, ‘Special’ und ‘Why Are You Looking Grave?’ welcher sich durch J. Mascis angeknackste Stimme auszeichnet) und Cocteau Twins-esque, winterliche Balladendichtung (“White Lips Kissed”) webten sie komplexe Tonläufe und sich dazwischen schlingende Refrains (siehe erste Single “Apocalypso”, Jonas beschrieb sie als “nicht ganz das Ende der Welt und nicht ganz karribische Tanzmusik”) um ein Album zu kreieren, das nicht perfekt mit den derzeitigen Nu Gaze Stylings von The Radio Dept., M83 und The Earlies übereinstimmt, sondern eher mit den hyperrealen Dance Of The Planets – Atmosphären harmonieren, die ausschließlich Mew besitzen.
Und, ähm, es dreht sich alles um den Tod.
Bekannterweise.
“Jeder Song beschäftigt sich mit anderen Aspekten des Lebens un der Angst”, erklärt Jonas. “Manchmal fällt es mir besonders auf, dass alles, was wir machen eine Ablenkung von der Tatsache ist, dass wir letztendlich leidend und sterbend enden
werden, was zwar eine besonders zynische Denkweise ist, aber man kann es durchaus so betrachten. Musik ist eine andere Möglichkeit deine Gedanken an etwas anderem festzuhalten, in einer Art und Weise, wie der Künstler etwas hinter sich lassen will. Also versucht er mit diesen Dingen fertig zu werden, ohne es allzu offensichtlich zu tun. Es gibt Dinge, die sind tiefergehender, aber sie sind für den Zuhörer nicht wirklich wichtig, es geht mehr darum, wie du die Platte erlebst und nicht was damit beabsichtigt war.”
Aha. Und diese Meereskreaturen mit den Gummi-Mündern und Nippel-Augen, wofür stehen die?
Jonas grinst. “Sie stehen für die dunklen Stimmen in deinem Kopf.”
Bitte, habt weiterhin diese Alpträume…
redink.de
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