Am 28. September 2011 jährte sich der Todestag Miles Davis’ zum zwanzigsten Mal – das große Medienecho für den bedeutendsten Jazz-Musiker aller Zeiten blieb jedoch aus. motor.de wagt trotzdem den Versuch einer späten Würdigung.
(Foto: Sandy Speiser, Sony Music)
Nennen wir es das Miles Davis-Paradoxon: Der Musiker ist tot und bleibt der lebendige Inbegriff eines ganzen Genres. Jazz ohne den Mann mit der Trompete zu Ende zu denken, ist schlichtweg unmöglich. Davis hat in seiner fünf Dekaden umfassenden Karriere weit mehr als nur eine Stilrichtung revolutioniert – er beeinflusste Musikergenerationen nachhaltig, gab sich nie mit seinem Sound zufrieden und darf zweifelsohne zu den umtriebigsten und besten Experimenteuren der modernen Musikgeschichte gezählt werden. Der bekennende Afro-Amerikaner schwebte dafür zeitlebens zwischen zwei Welten, wollte der Tradition genauso gerecht werden, wie neue, populäre Wege erkunden – und vielleicht liegt hierin das Problem der recht überschaubaren Berichterstattung zu seinem zwanzigsten Todestag: Miles Davis wirkt heutzutage wie ein Alien einer längst vergangen Zeit, schwer greifbar, intellektuell vollkommen vereinnahmt und das, obwohl er es nie darauf abgesehen hatte, so verkopft wahrgenommen zu werden.
Es soll an dieser Stelle gar nicht darum gehen, den informell gut gefüllten Wikipedia-Eintrag zu seiner Person wiederzugeben, sondern darum, dass Davis ein Punk, ein Revoluzzer und ein Mensch war, der das Wort Reform zu seiner Arbeitsweise deklarierte. In gewisser Weise lebte dieser Jazzer nämlich nicht nur zwischen zwei Welten, sondern auch in verschiedenen Epochen: Angefangen hatte alles Mitte der vierziger Jahre, als er in New York City die ersten Kneipenauftritte mit seinem musikalischen Ziehvater Charlie Parker absolvierte und lernte, was es heißt, im nachkriegsgebeutelten Amerika zurechtzukommen – in erster Linie nämlich: Eine Art Exzess gegen die kollektive Depression zu zelebrieren. Parker war stark drogenabhängig und für den gerade mal 18-jährigen Davis ein schwieriger Lehrer: In seiner späteren Autobiographie erinnert sich dieser oft an die Zeit, spricht davon, dass fast jeder Musiker mit chemischen Drogen herumexperimentierte und er Parker nicht selten aus Taxis befreite, von Zuhältern fernhalten musste oder vor Vermietern schützte, die kein Interesse an seinen ausschweifenden Hauspartys hatten und ihn regelmäßig zum Obdachlosen machten.
Miles Davis & Charlie Parker – “Out Of Nowhere”
An solchen Geschichten zeigt sich sehr schön, dass der Jazz trotz Dresscode und teils stark hierarchischen Strukturen keineswegs der Vorstellung von intellektueller Rotweinmusik entspricht. Das Genre war zum damaligen Zeitpunkt Punk – gerade die schwarzen Musiker bewiesen ihren Willen zur Revolte, hatten kein Interesse daran, sich irgendwelchen europäischen Strömungen aus Paris unterzuordnen und kreierten selbstsicher eigene Stilrichtungen. Im Falle von Miles Davis waren es – grob geschätzt – die späten Vierziger, die zweite Hälfte der Fünfziger und die späten Sechziger/Anfang Siebziger, die ihm Meisterwerke bescherten, die heute noch vor Brillanz strotzen.
(Foto: Bob Kato/ Sony BGM Music Entertainment Archives)
Allen voran das wundervolle “Birth Of The Cool” (1948/1950), mit dem der so genannte Cool Jazz den bis dahin alles bestimmenden Bebop Konkurrenz machte und Musiker auf der Bühne zeigte, die die Dinge auch optisch anders angingen: Nicht wie Louis Armstrong den dauergrinsenden Afroamerikaner mimten, sondern eine Distanz zum Publikum wahrten, bei Soli der Kollegen von der Bühne verschwanden und die anwesenden Gäste mit kühlem Abstand bedachten. Oder “‘Round About Midnight” knapp sieben Jahre später: Im Kreise des ersten, klassischen Miles Davis Quartetts eingespielt, wurden nun auch weiße Kritiker aufmerksam und der damals bedeutende Jazzrezensent Ralph Berton rang mit den Worten – beschrieb dieses Monster als “orthodox, middle-of-the-road conservative progressive jazz”. Top of the pops bleibt aber wohl “Kind Of Blue” (1959), Davis’ funkelnder Monolith und aus Sicht vieler auch das bedeutendste Jazzalbum aller Zeiten, welches natürlich jeder Worte entbehrt und wer schon immer wissen wollte, wie viele Superlative in eine Albumrezension passen, sollte sich das Essay von Gerald Early für die “Kind Of Blue” Deluxe Edition durchlesen.
Miles Davis – “So What”
Das alles darf als klassische Phase von Miles Davis verortet werden – denn bereits bei den zweiten Sessions zu “Kind Of Blue” am 22. April 1959, dürstete es ihm nach neuen Möglichkeiten, nach Wegen, die Grenzen des Jazz aufzubrechen und neue Strömungen hineinzuzulassen (nicht umsonst heißt das fünfte Stück der Platte “Flamenco Sketches”). Im Jahr darauf war es dann so weit, als “Sketches Of Spain” das Licht der Welt erblickte und Davis bewusst auf europäische Traditionen wie Flamenco oder spanische Volksmusik zurückgriff. Hier beginnt das Ende der flächendeckenden Begeisterung für seine Musik – so fragte der amerikanische Rolling Stone verdutzt, was das denn bitteschön soll und bekam als Antwort ein lapidares: “Es ist Musik, und ich mag es”, zurück. Ex-Guns N’ Roses Gitarrist Buckethead bezeichnet die Platte allerdings heute noch als seinen wichtigsten Einfluss und nahm 2002 sogar ein Remake davon auf.
Miles Davis – “Concierto De Aranjuez”
Mit “In A Silent Way” und “Bitches Brew” (beide 1969) folgte im Davis Potpourri der Fusion-Jazz und es ist vollkommen richtig, dass Massive Attack gegenüber dem Q-Magazin einst betonten, dass ihr musikalischer Ursprung u.a. hier läge und die Experimentierlust eines Musikers mit diesen Alben par excellence definiert werde. Was für Konservative wie ein Alptraum klang, ist für viele Novizen die spannendste und zugleich radikalste Phase im Schaffen des Trompeters. Selbst im Anschluss gelangen ihm weitere Kehrtwenden: Mit dem drei Jahre später veröffentlichten “On The Corner” wurde – wie Newcomer James Blake erklärte – ein wichtiger Grundgedanke elektronischer Musik vorweggenommen und selbst die müde wirkenden Jazz-Pop-Werke Anfang der Achtziger beeinflussten die damalige Popmusik nachhaltig. Davis-Fan Quincy Jones schneiderte Michael Jackson auf dessen “Thriller”-Album den Song “Human Nature” auch deswegen zurecht, weil er die Arrangements seines Idols so sehr liebte. Das posthum veröffentlichte, letzte Album “Doo-Bop” (1992) nahm derweil den spätneunziger Nu-Jazz-Hype mit der Eröffnungsnummer “Mystery” vorweg.
Miles Davis – “Bitches Brew” (Live – 1/6)
So viel zum Reformer und Revoluzzer Miles Davis. Es fragt sich angesichts dieses Haufens an Geschichte, warum die Medien rund um seinen 20. Todestag so still blieben? Zugestanden, Miles Davis war zeitlebens eine schwierige Persönlichkeit und wurde auch im Alter nicht umgänglicher. Hinzu kommt die arg intellektuelle Vereinnahmung rund um seine Person, dass es quasi nur der Schicht der Hochschulabsolventen vorbehalten sein dürfte, sich mit Jazz auseinanderzusetzen und das dieser Umstand es so schwer macht, dem Musiker Miles Davis gerecht zu werden. Schon möglich, doch würde er selbst wohl lauthals lachen, denn mit Universitäten verbindet Davis wenig – den akademischen Weg lehnte er schon im Teenageralter rigoros ab, als sein Vater ihm zum Zahnarzt ausbilden lassen wollte, was aber vom Sohnemann konsequent ignoriert wurde.
Miles Davis – “Mystery”
Überhaupt ist Miles Davis kein verkopfter Intellektueller: Gerade die letzten Interviews zeigen dies sehr gut – wie zum Beispiel in der tollen “Miles Davis Documentary“, bei der deutlich wird, dass hochtrabende Gespräche von ihm sofort heruntergebrochen wurden auf Emotionen und Gefühle – denn die seien es schließlich, die Musik lebendig machen: “Ich habe mich niemals für Mathe interessiert und verstehe ihre Fragen nicht”, witzelt er an einer Stelle gegenüber einer französischen Journalistin im dekadent wirkenden Backstageraum. Zynisch war er, ja, verscherzte es sich gern mit Wegbegleitern und hat nicht wirklich den Ruf ein guter Ehemann und Vater gewesen zu sein. Doch als Musiker gibt er Stoff für Fernsehabende zur Primetime her.
Verpasste Chancen einem der wichtigsten Musiker der letzten 60 Jahre gerecht zu werden. Schlussendlich lebt Miles Davis in der Musik weiter – und es bleibt das Paradox seines Ablebens: Den Jazz weiter zu unterwandern, obwohl am 28. September 2011 sein 20. Todestag verzeichnet wurde. Ein letztes Lebewohl an das vergessene Genie.
Marcus Willfroth
(Artikel-Foto: Sony Music)
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