Da steht ein knapp 30-jähriger junger Mann, der den Kopf ein wenig schief hält, der von den Tücken der eigenen Beerdigung singt, von einem Typen, der sich hinter den Gitterstäben seines Balkons beim Beobachten der Nachbarn plötzlich wieder in seinem Kinderbettchen wähnt, vom Schwangersein und vom letzten Thunfisch. Es ist nicht Moritz Krämer selbst, der da jammert und liebt, es sind seine Figuren, die er ohne Wertung akribisch beschreibt. „Ich und Du“, der Prolog seines Debütalbums, gibt seine Position für die folgenden Lieder vor: der Notizenanfertigende Beobachter auf der Rückbank, der den Hörer mit lichtflackernden Vertigo-Fahrten direkt in sein Album zieht.
Moritz Krämer hat in den letzten Jahren an verschiedenen Theatern als Komponist, Liedtexter und musikalischer Leiter gearbeitet (u.a. Berliner Volksbühne, Hebbel am Ufer Berlin, Maxim Gorki Theater, Thalia Theater Halle, Stadttheater Heidelberg). 2009 machte man ihn mit „Night of the Nerds“ an der Leipziger Skala des Centraltheaters schließlich zum Titelhelden eines szenischen Liederabends. Anderthalb Stunden Moritz-Krämer-Songs. Kein Stadttheater-Liederabend, bei dem sich Schauspieler als Bob Dylan oder John Lennon verkleiden und Geschichte kopieren, sondern Krämer mit seinem Zeug, das er auch bei Konzerten fernab von staatlich subventionierten Häusern spielt. „Wir können nix dafür“ ist sein Debütalbum. Es ist keine Theatermusik. Es ist Pop und erinnert eher an filmische Bilder als an theatrale Inszenierungen.
Auf „Wir können nix dafür“ geht es darum, wie sich Menschen zueinander verhalten, wie sie zu ihren Wünschen stehen und insbesondere zu den Dingen, die sie nicht bekommen. Zwölf Lieder, die Grauzonen hörbar machen, verpackt in makellosen, selbst in seinen vielen melancholischen Momenten federnden Songwriter-Pop. Die Frage der Schuld ist nicht nur in Songs wie „Nichts Getan“, „Winkel“, „Wir können nix dafür“, „Aussterben“ oder „Nachbarn“ allgegenwärtig, dabei jedoch niemals als Zuweisung oder Demutsgeste, sondern vielmehr als immer wieder aufgeworfene Frage: Wieso ist die kleine Nichte frei von Schuld, der erwachsene Gaffer auf dem Balkon hingegen nicht? Was ist in der Zwischenzeit passiert? Es ist fast so, als müsse er sich am Ende mit dieser Schuldfrage nicht mehr aufhalten, weil sie Ausgangspunkt und Vorraussetzung ist.
Zwischen all den zuckenden Achseln und dem ratlosen Hin und Her zwischen „Wie es ist“ und einem „Wie schön es doch sein könnte“ ist es Moritz Krämers unverwechselbare Stimme, die alles zusammenhält. Warm und ganz unmittelbar am Ohr des Hörers schmeichelt, balsamiert, röhrt und kippt diese oder katscht auf Vokalen wie auf einem alten Kaugummi. Dazwischen jazzt und swingt es gar wunderbar, mal galoppiert ungestümer Country durch die Straßen der Kreisstadt, mal malt Moritz Krämer „POP“ in schnörkellosen, mannshohen Lettern an alte Berliner Hausfassaden, hinter denen sich Pärchen zum Abendessen einfinden.
Sie macht sich einen Toast, er wischt die Milch vom Tisch. Konkret und verdichtet auf ein Gefühl, das sich beim mehrmaligen Hören ausbreitet und der Verdacht kommt auf, dass es da doch nicht immer um fremde Figuren geht. Dass es am Ende alles nur Moritz Krämer selbst betrifft, dass er es ist, der die Katze seiner Exfreundin vom Balkon wirft, dass er peinlich ehrlich die Nähe zu seiner Mutter gesteht. Dass er eine Form dafür gefunden hat, damit es übertragbar wird, auf einen Hörer wie mich, der am Ende nun etwas ganz anderes als am Anfang dieses Textes schreibt. Der sich widerspricht, weil die Texte Raum für diesen Widerspruch lassen, für das sinnlose Wohlstandsgejammer auf der einen, für das Ernstnehmen der kleinen Gefühle auf der anderen Seite.
Mario Cetti
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