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Anna, nicht nur wenn es regnet, muss ich an dich denken. Wie fang ich es nur an. Am besten, ich schreibe dir einen Brief. Ein bisschen nervös bin ich ja, meine ungelenken Hüfchen treffen die Tastatur im Zweiersystem plötzlich nur noch ungenau. Gedankenverspulung. Wie beginnt man so einen Brief, was soll man denn nach so einem schönen Release fragen. Am besten alles… schön der Reihe nach.
motor.de: Anna, deine Musik hat mich beim Hören an Arvo Pärt-Platten erinnert.
Anna: Wow, ich danke dir. Was für ein Kompliment. Arvo ist einer der größten Komponisten, die ich kenne. Er hat wundervolle Werke erschaffen. Seine Orgelkompositionen faszinieren mich, besonders „Pari Intervallo“.
motor.de: Ich habe deine Musik in verschiedenen Situationen laufen lassen, und habe herausgefunden, dass ich traurig werde, wenn ich sie höre. Das ist kein schlechtes Zeichen, du berührst einen schließlich. Ist das dein Konzept – diese Stimmung zu erzeugen?
Anna: Das Album arbeitet mit den zwei großen Themen: Natur und Tod. Ich schrieb die Songs, nachdem ich meinen Großvater verloren hatte. Ich würde ihn als meinen besten Freund bezeichnen. Als er ging, war ich am Boden zerstört. Doch etwas Faszinierendes ergriff mich in meiner Trauer. Ich fing an, die Dinge zu sehen. So, wie sie sind. Die Banalitäten des Lebens lösten sich in meinem Blick auf. Ich hatte die Möglichkeit, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen. „Ceremony“ ist eine Sammlung dieser Visionen. Sie beschäftigen sich zu einem Großteil mit der Flüchtigkeit des Seins. Liebe und Mitgefühl habe ich aber bewusst nicht ausgeklammert. Das Album sollte alles aus mir – in dieser Phase – reflektieren.
motor.de: Bist du eine depressive Person?
Anna: Wen kümmert es, ob ich eine depressive Person bin. Ich finde nicht, dass meine Musik deprimiert klingt. Aber ich verstehe, wenn Menschen deprimiert werden, während sie meine Alben hören. Ich selbst wandere durch viele Emotionen, wenn ich Musik mache. Das ist auch der Grund, warum ich es mache. Musik kann einen temporären Durchgang in dein emotionales System öffnen, einem Kanal gleich. Nach dieser Reise, nach dem Spielen, fühle ich mich immer sehr friedlich.
motor.de: Für Außenstehende ist dein Album nicht gerade leicht konsumierbar. Was gibt dir die Freiheit, solch untrendige Musik zu machen?
Anna: Ich folge meiner Intuition, und meinem Herzen.
motor.de: Gehst du an einen bestimmten Ort, um deine Musik zu schreiben oder saugst du deine alltägliche Umgebung direkt auf das Papier?
Anna: Du weißt nie, wann ein großer Song auf dich zukommt. Ich versuche alle Momente festzuhalten. Wenn ich fühle, dass ich etwas kreieren muss, dann beginne ich sofort zu schreiben. Das kann bei mir zu Hause sein, wenn ich vor meinem Synthesizer sitze. Oft halte ich Dinge im Alltag auch einfach nur in Gedanken fest und sammle sie. Manchmal notiere ich mir natürlich Fragmente auf einem schnell abgerissenen Stück Papier, wenn ich im Zug sitze. Gerade wenn es zu abstrakt wird, muss das sein. Das sind oft nur kleine Bruchstücke von Unterwegs. Ich reise ja viel. Ich wohne zwar in Kopenhagen, aber das, was ich aus dieser einen Stadt ziehe, vermengt sich mit anderen Eindrücken meiner Abenteuer unterwegs. Das Studio ist ein Ort, an den ich heimkehre und die Erlebnisse verarbeite. Ich spiele mit meiner Band und dann fließt alles zusammen. Wenn es funktioniert, was nicht immer der Fall sein muss, wird es aufgenommen.
motor.de: Deine Stücke sind sehr intime Angelegenheiten. Wen beteiligst du an deinem künstlerischen Prozess?
Anna: Alle Musiker, Videoproduzenten und Cover-Designer sind alte Freunde. Ich kenne sie noch aus der Schule oder durch andere enge Freunde. Ich bin nicht gut darin, mit Fremden zusammenzuarbeiten. Ich werde nervös. Deswegen habe ich einfach Glück, dass ich talentierte Freunde habe. Wenn ich im Juli in New York bin, werde ich das erste Mal mit Fremden spielen. Eine Band voller Fremder. Wie du dir denken kannst, bin ich sehr nervös.
motor.de: Wie setzt du deine Musik live um?
Anna: Meine Band besteht aus fünf Personen. Hin und wieder unterstützt uns meine Schwester auf der Bühne. Leider kann ich live keine Kirchenorgel mitbringen. Ich greife also auf eine große Elektro-Orgel zurück. Mit der, die ich benutze, kann ich sehr authentische Sounds erzeugen. Das funktioniert perfekt mit Band. Zurzeit konzentrieren wir uns live sehr auf das aktuelle Material – aber wir improvisieren gern. Auf der Bühne zu improvisieren ist für uns ein wichtiges Mittel, um Ideen für neue Stücke zu sammeln. „Ceremony“ wäre nicht das geworden, was es ist, wenn wir davor nicht ein Jahr intensiv mit dem Material von „Singing from the Grave“ getourt wären. Ich bin ehrlich gesagt schon sehr gespannt, in welche Richtung das nächste Album gehen wird. Ich habe sogar schon einiges an Material und einen Arbeitstitel dafür. Für dieses Jahr ist aber erstmal ein Album-Release geplant, bei dem ich Teil der Gruppe „Hydras Dream“ bin. Diese Formation besteht aus dem schwedischen Pianisten Matti Bye und mir. Wir haben uns einfach getroffen, viel Kaffee getunken und los-improvisiert. Das Album war in drei Tagen fertig. Lyrisch ist es an das Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Hans Christian Andersen angelehnt.
motor.de: Du hast dein Debüt “Track of Time” 2010 herausgebracht. Es war sicher ein langer Weg bis dahin, oder?
Anna: Du hast Recht. Zuerst kam die “Track of Time”-EP. Darauf waren vier Stücke. Zwei davon habe ich auch später auf dem ersten Album verwendet. Die EP nahm ich im „Music a Matic”-Studio in Göteburg auf. Zusammen mit dem Produzenten Henryk Lipp. Unsere Zusammenarbeit fing ab diesem Punkt an, weil ich sehen wollte, ob wir beide etwas Gutes zusammen erschaffen können. Schon nach einem Tag hatten wir diese vier Tracks. Das führte auch dazu, dass mir Mattias Nilsson vom Label „Kning Disk“ einen Plattenvertrag anbot, also habe ich ein ganze Album mit Henryk aufgenommen: “Singing From the Grave” erschien noch 2010, auch weil es sehr schnell aufgenommen wurde. Ich hatte eine so lange Zeit mit diesen Gefühlen und Songs gelebt, jetzt konnte ich sie endlich aufnehmen. Usprünglich wollte ich sie einfach auf Tape spucken. Aber durch die neuen Umstände konnte ich mit Henryk in einem sehr guten Sound aufnehmen. Nach diesem Album habe ich mir zwei Jahre Zeit genommen. „Ceremony“ ist ja erst 2012 in meinem Heimatland erschienen, und jetzt auch bei euch. Die lange Wartezeit hatte auch den Hintergrund, dass ich viel live gemacht habe und viele Leute kennenlernte. Deswegen bekam „Ceremony“ eine andere musikalische Richtung. Ich wollte stärker experimentieren, selbst mehr Aufmerksamkeit auf die Instrumentierung und Produktion legen. Ich fragte meinen alten Freund Filip Leyman, ob er mir als Producer hilft. Weil wir uns so lange kennen, verstand er, wo ich hinwollte. Auch von meiner Seite war das so. Wir hatten schon fünf Jahre zusammen gespielt und ich hatte seine Produzentenarbeit seit Tag eins verfolgt.
motor.de: Warum mussten wir in Deutschland so lange auf „Ceremony“ warten?
Anna: Ach weißt du, manchmal muss man ein ganzes Leben auf etwas warten. Bis sich deine Musik verbreitet und bekannt wird. Ich kann das nicht beeinflussen. Ich mache einfach Musik und lass alles andere einfach passieren. Das Label "City Slang" interessierte sich dafür, die Musik auch bei euch zu releasen. Und darüber bin ich sehr glücklich.
motor.de: Benutzt du gesamplete Instrumente in deinen Aufnahmen?
Anna: Nein. Alles ist eingespielt. Mir ist es wichtig, dass man die Person hinter dem Instrument hört. Meine Alben sollen organisch klingen – ich ziehe es vor, mit analogen Instrumenten zu arbeiten.
motor.de: Hast du eine musikalische Ausbildung?
Anna: Ich bin auf die Musik-Hochschule gegangen, was gut war, weil ich dort gelernt habe, Noten zu lesen und mich an den verschiedensten Instrumenten versuchen konnte. Aber das Wichtigste habe ich außerhalb der Schule mitgenommen: In Proberäumen zusammen mit Bands. Ich lerne immer noch jeden Tag sehr viel Neues.
motor.de: Was denkst du, welche Menschen hören deine Musik?
Anna: Ich weiß nicht. Ich rede natürlich gelegentlich nach den Konzerten mit den Leuten. Und da sind ganz verschiedene Charaktere dabei. Das einprägsamste Gespräch, das ich jemals nach einer Show hatte, war mit einem 90 Jahre alten Mann. Er hat geweint und mich gefragt, ob ich auf seiner Beerdigung spielen möchte. Ich sagte ja. Aber er hat mich noch nicht angerufen. Ich nehme einfach an, er lebt noch glücklich ein paar Jahre.
motor.de: Du bist 1986 geboren. Also in den Neunzigern groß geworden, ich nehme aber an, die Musik der 80er hat größeren Einfluss auf dein künstlerisches Schaffen gehabt. Welche Acts haben dich am stärksten geprägt?
Anna: Da hast du ein bisschen Recht. Depeche Mode und The Cure sind großartige Bands. Ich bin aber auch sehr stark durch die 70er und 90er beeinflusst. Ich würde noch Echo & The Bunnymen nennen. Talking Heads könnte man als meine absolute Lieblingsband aus den 80ern bezeichnen.
motor.de: Dein Vater ist ebenfalls Musiker. Wie stark hat er dich beeinflusst?
Anna: Das ist schwer zu sagen. Er ist eine kreative Macht, arbeitet ständig an neuen Sachen. Ich denke, er ist ein Juwel. Er inspiriert mich sehr, aber unsere Arbeit ist von Grund auf verschieden. Er geht in seinen Sachen sehr systematisch vor. Das, was ich tue, geht in die komplett andere Richtung.
motor.de: Kannst du bitte einen Song aus dem Album nennen und daran erklären, was es mit den zahlreichen religiösen Motiven auf sich hat?
Anna: “Liturgy of light” oder “Epitaphs”. Ich mag diese Worte. Wie sie schwingen. Sie sind transzendent und universell einsetzbar. Religion ist mit unserer Kultur so sehr verflochten, dass fast jeder etwas mit diesen Motiven anfangen kann und sie für sich deuten kann. Nur deswegen nutze ich sie, als Mittel der Assoziation. Es hat nichts mit religiösem Glauben zu tun.
motor.de: Hörst du dir Zola Jesus oder Soap&Skin an?
Anna: Ja, das tue ich! Beide sind einfach großartig! Sie nutzen die volle Bandbreite ihrer Bruststimme mit solch einer Hingabe. Das liebe ich. Soap&Skin habe ich gerade erst durch deine Frage entdeckt. Eine sehr schöne Entdeckung.
motor.de: Ich bedanke mich für deine Antworten. Hier ist jetzt dein Platz, an dem du noch etwas sagen kannst: Dinge, die ich vergessen habe zu fragen, oder einfach noch nicht wusste.
Anna: An dieser Stelle möchte ich nur Danke sagen. Danke, dass du ein solches Interesse an meiner Musik hast und mir hilfst, sie den Leuten zu zeigen. Und danke für die Geduld.
John Sauter
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