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„Bei Musiker*innen geht es nicht nur um das Überleben – es geht um die eigene Identität“

Existenzangst plagt uns alle mal, doch Musiker*innen betrifft sie besonders oft. Ein Interview mit der Psychologin Anna-Marie Vitzthum über die Identität als Künstler*in, den Sinn von Ängsten und Übungen, die helfen können.

Nach Camus und seiner Philosophie des Absurden steht der Mensch im ständigen Konflikt zwischen dem Versuch einen Sinn des Lebens zu finden und der menschlichen Unfähigkeit, diesen tatsächlich zu finden. Musiker*innen übersetzen sowohl die Unfähigkeit als auch den Willen zur Suche in ihr Werk. Durch die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und der allgemeinen Unsicherheit, die das Musikbusiness mit sich bringt, verbringen viele Musiker*innen ihre Tage in Existenzangst – während Corona selbst die, die sich eigentlich sicher dachten.

Doch was ist diese Existenzangst, über die man so viel liest, überhaupt? Und warum scheinen Musiker*innen so oft davon betroffen zu sein? Das haben wir die Psychologin Anna-Marie Vitzthum, die speziell für Musiker*innen Beratungen anbietet gefragt:

Motor.de:  Frau Vitzthum, wie würden sie Existenzangst definieren?

Anna-Marie Vitzthum: Ich verstehe den Begriff als die Angst, materielle und finanzielle Belange des Lebens nicht mehr stemmen zu können, wodurch grundlegende Säulen der menschlichen Existenz als bedroht empfunden werden: (Über-)Leben, Zugehörigkeit und Sinnhaftigkeit.

Motor.de:  Eine norwegische Studie von 2015 zeigte, dass professionelle Musiker*innen häufiger psychischen Erkrankungen ausgesetzt sind als Menschen in anderen Berufen. Warum sind Musiker*innen besonders betroffen?

Vitzthum: Die Forschung zur psychischen Situation von Musiker*innen diskutiert derzeit verschiedene Ursachen. Neben höheren Ausprägungen von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften, wie z.B. Neurotizismus, der mit vielen psychischen Störungen im Zusammenhang steht, gibt es auch bestimmte Umweltfaktoren, denen Musiker*innen in besonderem Maße ausgesetzt sind. Zum Beispiel herrscht in der Musikbranche in der Regel ein raues Klima, in welchem der einzelne Mensch mit seinen Empfindungen und Bedürfnissen nicht unbedingt etwas zählt. Getreu dem Motto: „The show must go on! – egal, wie du dich fühlst“. Hinzu kommt der Umstand, dass die zukünftige Auftragslage ungewiss ist.

In manchen Genres ist es gar unmöglich, allein von der Musik zu leben, sodass die Berufung Musik zu machen mit einer anderen beruflichen Tätigkeit in Einklang gebracht werden muss. Das ist ein enormer Balanceakt. Musiker*innen bewegen sich also insgesamt in einem prekären, wenig vorhersagbaren Arbeitsfeld. Gleichzeitig ist die Bezeichnung der eigenen Person als Musiker*in und die damit verbundene musikalische Leistung stärker als in vielen anderen Berufsfeldern mit der eigenen Identität verknüpft. In Bezug auf die Existenzangst bedeutet das wiederum, dass ein Straucheln hinsichtlich des eigenen Erfolges nicht nur das Überleben bedroht, sondern unter anderem die eigene Person und getroffene Lebensentscheidungen in Frage stellen kann. Hier geht es also nicht allein um das Überleben, sondern auch um die eigene Identität und damit verbunden das Erleben von Sinnhaftigkeit sowie Zugehörigkeit.

Motor.de: Warum haben Sie sich dazu entschlossen ein online Coaching speziell für Musiker*innen zu starten?

Vitzthum: Ich bin selbst Musikerin und war viele Jahre sehr intensiv darin involviert, meine Projekte voranzutreiben und Touren zu spielen. Dadurch wurden mir die Herausforderungen dieses Lebensweges stark vor Augen geführt. Auch ich habe an vielen Stellen gezweifelt, war hier und da mit meinem Latein am Ende. Im Austausch mit Kolleg*innen bemerkte ich, dass es vielen Musiker*innen so ging und geht. Da ich außerdem psychologische Online-Beraterin bin, entstand die Idee, Beratungen und Coachings speziell für Musiker*innen anzubieten. Gerade das Online-Setting schien mir dabei als nützlich, weil Musiker*innen viel unterwegs sind, wenn nicht gerade eine Pandemie tobt. So können meine Klient*innen die Beratung auch dann ortsunabhängig und zeitlich flexibel in Anspruch nehmen.

Motor.de: Kann man überhaupt ohne Existenzangst leben oder ist diese Angst vielleicht sogar gesund für unsere Psyche?

Vitzthum: Ängste sind im Allgemeinen ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Daseins. Sie dienten unseren steinzeitlichen Vorfahren zum Überleben, in dem sie den Körper bei Gefahren für Leib und Leben darauf vorbereiteten, zu kämpfen oder zu fliehen. Auch die Existenzangst kann man sich als Signalleuchte vorstellen, die blinkend mitteilt, dass gerade eine Gefahr für die eigenen existenziellen Belange droht. Ohne die Angst würden wir irgendwann vermutlich zu weit über unsere Grenzen hinaus gehen, was uns eher schadet, als nützt. Schwierig wird es jedoch, wenn die Angst das Leben bestimmt.

Motor.de: Was kann man ganz allgemein gegen Existenzangst tun?

Vitzthum: Viele Menschen empfinden ihre Existenzängste als ein persönliches Versagen. Aber gerade in prekären Tätigkeitsfeldern ist Existenzangst etwas ganz Normales. Zunächst einmal ist es wichtig, die Angst als Signal der eigenen Grenzen anzuerkennen und zu akzeptieren, dass sie da ist. Man kann sie als Anlass nutzen, die eigene Situation zu reflektieren und zu schauen, ob es Möglichkeiten gibt, Veränderungen vorzunehmen, welche die empfundenen existenziellen Bedrohungen verringern. Dabei kann es hilfreich sein, sich Kolleg*innen, der Familie und Freund*innen zu öffnen. Auch Entspannungstechniken wie regelmäßige Meditation oder autogenes Training können dabei unterstützen, einen Umgang mit der Angst zu finden. Wenn die Angst jedoch länger anhält und man bemerkt, dass man feststeckt, sollte psychologische Unterstützung gesucht werden.


Anna – Maria Vitzthum arbeitet als Psychologin und bietet auch eine Online Beratung an. Mehr dazu erfahrt ihr hier.

Mareike Froitzheim

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