(Foto: Imago)
Liebes Tagebuch,
letztens fuhr ich zum Reeperbahn Festival nach Hamburg. Ich traf hochinteressante Persönlichkeiten, sah verrückte Musiker das machen, was sie am liebsten tun und quetschte mich durch Massen von Popbegeisterten. Wie das war? Na wie wohl!
Wo alles begann? Am Mittwoch im Regen. Mit einem Interview mit den großartigen Yesterday Shop! Die Band, die klingt, als würden sie seit 15 Jahren zusammen Musik machen und so was wie ein kommerzieller Durchbruch nie gekommen wäre, was die Musik noch trauriger und eigensinniger gemacht hätte, die Sometree-Story halt. All das trifft nicht zu. Jung! Dynamisch! selbstständig! Das ist hier statt Karriereleiterquatsch und Lebenslaufoptimierung eher ehrliche, gute Musik und das Unterfangen, einfach selber ein Label zu gründen, den ganzen BWL- und Promokram auf sich zu nehmen und nebenbei tolle Künstler aller möglichen Genres zu veröffentlichen. Respekt. Sympathisches Gespräch inklusive.
Und was nun? Der Mittwochabend schließt und das Festival beginnt musikalisch (u.a.) mit einem Showcase deutscher Bands. Nein danke. Mini-Sets vor Anzugträgern, die nicht ein mal einen Anzug anhaben, weil sie sich tarnen wollen. Wichtigmenschen, die ihr Namenskärtchen ständig überall rausbaumeln lassen. Alle auf der Suche nach dem Next Big Thing. Und gut sind die Acts alle mal, aber so? Gut, da kann ja nun das Reeperbahn Festival nichts dafür und eine der vielen wissenswerten Tatsachen des Veranstaltung ist es, dass die Bands meistens doppelt auftreten und die Möglichkeit besteht, diese auch in verrauchter Clubstimmung anzuschauen. Also erst mal ins Bett.
Am Donnerstag geht’s ausgeschlafen weiter. Zweiter Termin: Abby! Die vier Indie-Posterboys springen aus dem Tourbus wie auf Klassenfahrt. Die Tour hat quasi eben begonnen, kein Promotermin kann diesen Sonnenstrahlen den Tag versauen. Das steckt an! Ich kann ihnen nicht enthalten, von ihrem Auftritt bei Berlin Live ziemlich begeistert gewesen zu sein. Objektiver Journalismus sieht anders aus. Und ist langweilig. Das Interview findet auf einer Couch im John-Lennon-Bus statt. Das ist eine Art fahrendes Tonstudio, das von Yoko Ono gesponsert wurde. Den Zweck habe ich vergessen, wahrscheinlich um armen Kindern zu zeigen, wie leicht es ist, mit heutiger Technik etwas aufzunehmen und kreativ zu sein, um der proletarischen Gewaltspirale zu entgehen. Nur leisten müsste man sich die Technik noch können.
Termin Numero drei: Puh, Schweiß, Zittern, genaueste Vorbereitung: Die Shout Out Louds. Die Indie-institution gibt sich als ebenso aufgeschlossen wie die Abbys. Genauer: Keyboarderin Bebban Stenborg und Gitarrist Carl von Arbin. Auch die Frage, warum das neue Album so elektronisch geworden ist, wo doch jetzt jede Indieband einen Synthie auf der Bühne habe, nehmen sie locker. Das Konzert am späten Abend ist faszinierend. Trotz mehrerer Verspieler ein Fest, im Saal eine kollektive Ausschüttung der Glückshormone. Da ist so viel Herzblut in den Songs und der Darbietung, dass es fast weh tut. Vorher waren die Gigs von Yesterday Shop und Labelkollegen Drape auf meiner Liste. Dazwischen die Slacker von den Smith Westerns aus Chicago. Waren aber auch gut.
Shout Out Louds – Walking In Your Footsteps on MUZU.TV.
An der Garderobe frage ich, wie weit denn die Verhandlungen über den Verbleib des Molotows seien. Deprimiert kam zurück, dass am Tage vorher der baldige Abriss beschlossen wurde. In diesem schönen Schuppen noch einige Konzerte sehen zu können, wurde vor diesem Hintergrund noch spannender. Da wird man ja selbst als Außenstehender sentimental, denn klar: es geht ja auch ums Prinzip! Die „Aufwertung“ macht auch vor den wirklich wertvollen Sachen keinen Halt. Scheiße ist das. Ich frage noch irgendwen im Club, wann denn die letzte Bahn fahren würde: „Keine Sorge, die fahren neuerdings durch!“ Naja.
Freitag: Ich treffe Kollege Julian vor dem überaus imposanten Bunker, der das Übel&Gefährlich beheimatet. Ein furchteinflößender Koloss, der mich ganz klein fühlen lässt. Hier zieht es wie vor einem Gewitter. Im Übel ist Soundcheck, unsere Ohren können das OK Kid Set antesten, bevor wir die drei Herren zum Gespräch bitten. Sie wirken irgendwie müde und verschlossen, sind aber hip gekleidet: quasi genau wie ihre Musik! Ach das ist also diese Authentizität? Musikalisch jedenfalls top. Da ich den kistenschleppenden Schlagzeuger von Herrenmagazin hier ordnungsgemäß seinem Job nachgehen sehe, denke ich enttäuscht, dass es mit guter Musik wohl immer noch nicht zum Leben reicht. Und wer hier überhaupt mehr Beachtung verdient hätte.
Abends dann ein weiteres Highlight: Messer kursieren nicht nur im Netz, sondern auch in meinem Kopf als Hoffnung des deutschsprachigen Punk. Wie viele Bands diese Phrase schon gehört haben müssen. Da liegt jedenfalls viel (Er-)Klärungsbedarf in der Luft, das riecht man, die Gitarren lassen dem Text seltsam viel Raum. Im Hamburger Indra tropft es von der Decke, es ist randvoll, alle hören aufmerksam zu. Ich freu mich wie ein Kind darauf, mit den Münsteranern nerdig zu werden. Das ist schon ziemlich uncool, es muss aber manchmal einfach raus. Pop-Theorie, die politische Dimension von Musik und natürlich: Retro! Ganz wichtig! Was kann das und Post-Punk: haben wir das nicht alle schon mal gehört, nein, in dieser Form nicht und und und. Nach vier Bier findet man jede These weltbewegend. Bester Kommentar bleibt der abschließende von Gitarrist Pascal „Mir geht’s eigentlich nur um die Musik“ oder so. Bin sehr gespannt, was das zweite, von Tobias Levin produzierte Album für die Band bringen wird. (Dass es sogar noch großartiger ist, kann ich jetzt schon sagen!).
Während des Interviews hat sich vor dem Indra schon eine riesige Schlange gebildet, Abby haben die Bühne betreten. Es wird getanzt und gegrinst.
Samstag: Gegen 13.00 Uhr sitzen wir wieder im Bunker. Dagobert ist heiser, so heiser, dass er Playback singen wird, später. Das Interview ist das faszinierendste des Festivals. Dieser Typ ist genau deswegen so interessant, weil er nicht versteht, was an ihm denn so faszinierend sei. Eine Erscheinung wie aus einem Comic, der ernste MC Fitti. Dagobert ist ein Schlagersänger, der fünf Jahre in die Berge gegangen ist, um Liebeslieder für eine verlorene Frau zu schreiben. Im Frack sitzt er neben uns und möchte die Unstimmigkeiten nicht begreifen, die wir ihm, ohne es böse zu meinen, attestieren. Seine Vorbilder sind die Flippers, sein Lieblingsalbum ist eines der Scorpions. Gehypet wird Dagobert ausschließlich (?) in Hipsterkreisen, man möchte aber meinen, er würde sich über eine Einladung zum ZDF-Fernsehgarten mehr freuen. Er habe keinen Erfolg und der Plan sei nicht aufgegangen, das ist die Grundhaltung. Noch nie eine Persönlichkeit mit so viel Ausstrahlung gesehen. Auch das „Konzert“ ist der Wahnsinn. Dagobert kündigt ohne Vorbehalte an, dass es sich nur um Playback handele. Mehrmals schmeißt er das Mikrofon aggressiv auf den Boden, dass es knallt. Bitte lasst diesen Mann zu Kult werden!
Dagobert – Ich bin zu jung on MUZU.TV.
Über kaum ein Viertel in Deutschland ranken sich so viele Gerüchte und Gerüche wie um das Rotlicht- und Vergnügungsviertel an der Elbe. Mittlerweile treffen es jeweils eher die letzten Zuschreibungen. Was früher verrucht und Seemännern vorbehalten war, ist mittlerweile jedermanns Lieblingsstadtteil zum hippen Ausgehen oder begehrter Ort um den Junggesellenabschied zu feiern. Ganz andere Facetten zeigt (noch?) das Schanzenviertel. Wie ein Kind staunend begutachte ich das, was Kreuzberg vielleicht vor 20 Jahren war. Alles so schön und so schön kompakt hier, denke ich und hab’ eigentlich keine Ahnung. Dass auch hier längst nicht alles glatt läuft, sehe ich nämlich am Samstag, als wir von einer Demo gegen Mietsteigerungen mitgerissen werden. Erst im Café sitzend als böse Yuppies beschimpft und mit Bier bespritzt, reihen wir uns anschließend ein.
Interviewpartner sind Satellite Stories, eine Band, die verdammt tanzbaren Indie-Pop macht. Die kochen das, worauf auch Two Door Cinema Club während ihres ersten Albums Hunger hatten. Die Band ist extrem jung, ihre Songs energetisch. Die Finnen laden geradewegs dazu ein, ihnen ebenso ungestüm entgegenzutreten, umso überraschter war ich über den Professionalitätsgrad, der an den Tag gelegt wurde. Wenn ich frage, ob sie ihre Songs in der Sauna schreiben, ist das NATÜRLICH nicht ernst gemeint. Man hätte lachen können und „Nein“ sagen können und mich gedanklich verdammen können, denn: zugegeben: das ist schon ziemlich unlustig. Man hätte mir auch direkt contra geben können, sich angepisst zeigen, zurück schießen! Was kam, war nur eine ernste Antwort, man könne es ja mal versuchen usw… . Strange war das. Manager Michael schüttelt nach jeder zweiten Frage den Kopf. Zu recht! (Egal sollte es sein, wie sich später heraus stellen wird.)
Satellite Stories – Kids Aren't Safe In The Metro on MUZU.TV.
Morgens um 11 stand ein Interview mit Feine Sahne Fischfilet an. Ich bin umsonst zum Molotow gefahren, denn die Band hatte den falschen Sprit getankt, lässt Audiolith-Arthur mich wissen. „Kannst später wiederkommen!“ Später, bei der Demo, erspähe ich Sänger Monchi, der nun wirklich nicht zu übersehen ist, um ihn auf unsere Verabredung hinzuweisen. Um Geistesgegenwärtigkeit bemüht, schreit er mich in hanseatischem Dialekt an: „Aldää, ich bin knüppelhart, lass das ma spädää machen! Komm einfach nach’m Auftritt lang!“ Dieses Mal also den richtigen Sprit getankt, ja? Aber Ordentlich. So muss das sein, ist ja nicht so, dass ich etwas anderes erwartet hätte.
Bevor wir Feine Sahne Fischfilet im Kaiserkeller spielen sehen vertreiben wir uns die Zeit mit den Engländern Apologies, I Have None (gut!) und langweilen uns bei Efterklang zu Tode. Dann ist es endlich soweit.
Es gibt Bands, die sich auf Tour zurück nehmen, um auf ihre Stimme zu achten, die Tour durchhalten zu können oder sonst was und trinken nicht. Dann gibt es die, die ein bisschen auf Rock’n’Roll machen und jeden Abend auf der Bühne ihr Bierchen zischen. Und dann gibt’s Feine Sahne Fischfilet. Monchi kommt mit 2, 3 Flaschen Fusel (nur das Beste: Billigvodka mit Geschmack, perfekt zum pur trinken) auf die Bühne und stellt sie neben die Monitoren. Den meisten Inhalt schüttet er jedoch in die vielen Kehlen, die aus dem Pogopit ragen wie Vogelkinder aus dem Nest. Hier soll heute keiner nüchtern bleiben! Der Kaiserkeller ist klein genug, um eine schweißtreibende, enge und intime Punkshow zu ermögliche. Das I-Tüpfelchen sind die äußerst politischen Ansagen. Gegen Faschos (klar!), gegen die CDU (sowieso) und gegen die rechte Mitte der Gesellschaft (Treffer!). Völlig zu recht als verfassungswidrig eingestuft! Da haben erst Audiolith, dann der Staatsschutz einen guten Riecher bewiesen!
Feine Sahne Fischfilet – Komplett im Arsch on MUZU.TV.
Danach, einige Konzerte weiter, geht der Tag und das Festival dem Ende entgegen. Wir gehen der am besten klingenden Musik entgegen! Größter Fehler! Nicht mit IRGENDWELCHEN Wertsachen! Nicht, wenn’s der wahrscheinlich einzige Club am Platz ohne Garderobe ist. Auch wenn der Rucksack auf der scheiß Tanzfläche vor dir steht. Dreh dich einmal um und er ist weg. Alles umsonst.
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