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“Der Titel kommt immer zum Schluss.” – Stephen Morris im Interview

Manchester, Musikinstrumente und elektronische Tanzmusik im Wandel der Zeit: motor.de sprach mit New Order-Schlagzeuger Stephen Morris.

Man könnte befürchten, dass eine musikalische Karriere, wie sie New Order durchleben durften, den Erfolg unangenehm ins Ego zwängt. Schlagzeuger Stephen Morris bewies das Gegenteil: In bester Heiterkeit erzählte er ganz natürlich von damals wie heute, sprach über Manchesters Musikszene, Synthesizer und philosophierte über ihren Hit “Blue Monday” und das Covern an sich. Dabei wirkte der sympathische Musiker ganz und gar nicht in die Jahre gekommen – nur Namen kann er sich nicht merken. Und natürlich kam “Total” zur Sprache, die neueste Best-Of-Compilation, auf der New Order und Joy Division-Stücke auf einer CD vereint sind.

motor.de: Was ist eigentlich mit dem Hacienda passiert, dem berühmten Club der New Wave-Szene in Manchester? Einerseits liest man, er sei abgerissen worden, andererseits findet man immer noch aktuelle Veranstaltungen, die damit in Verbindung zu stehen scheinen. Existiert er doch noch?

Stephen Morris: Eigentlich ja und nein (lacht). Er wurde abgerissen und man hat Wohnungen drauf gebaut. Aber es gibt eine Ampelkreuzung in Manchester, die jetzt als Haciendakreuzung bezeichnet wird. Die Leute reden also darüber, als wäre er noch da. Eigentlich gibt’s das nicht mehr, aber du kannst da jetzt wohnen, wenn du willst.

motor.de: Danke für des Rätsels Lösung.

Stephen: Kein Problem. Ich löse immer gern Rätsel.

motor.de: Zurück in die Gegenwart: Eure neue Best-Of Split-Compilation “Total”, die New Order und Joy Division-Stücke enthält, ist gerade erschienen. Kannst Du uns etwas über dieses Projekt erzählen?

Stephen: Nun ja, New Order- und Joy Division-Compilations scheinen jedes Jahr herauszukommen (lacht). Es gibt so viele Songs, aber Joy Division schreibt keine neuen mehr und New Order auch nicht. Also musste die Plattenfirma eine neue Idee finden, eine Joy Division-Compilation herauszubringen und kam mit dem Plan an, Joy Division und New Order zusammenzupacken, weil das vorher noch nicht gemacht wurde. Ich persönlich hielt das für eine schreckliche Idee. Obwohl es im Grunde die gleiche Band ist, sind es wirklich zwei unterschiedliche Dinge. Es ist schwer zu erklären. Ich denke, das Problem liegt nur bei mir. Letztendlich wurde ich überstimmt, wir leben ja in einer Demokratie. Es war nicht einfach die Titel auszuwählen, weil es so viele gute gibt. Die von Joy Division sind alle toll, New Order hat auch viele tolle Songs und die übrig gebliebenen waren immer noch die Lieblingsstücke von irgendjemandem. Es war nicht befriedigend, aber was am Ende dabei herausgekommen ist, klingt gut. Und die Reihenfolge, die chronologisch ist, funktioniert auch. Das war aber pures Glück.

motor.de: Es ist ja mit “Hellbent” auch ein neuer Track auf der Compilation enthalten. Was hat es damit auf sich?

Stephen: Als wir das letzte New Order-Album aufgenommen haben, ist der übrig geblieben. Wir schrieben damals bei “Waiting for the Sirens’ Call” mehr Stücke, als wir brauchten. Die Idee dabei war, dass die Titel, die übrig blieben, das nächste New Order-Album werden würden, was aber nie geschehen ist. Also hatten wir noch etwa sieben Songs übrig und “Hellbent” war davon am einfachsten fertigzustellen. Ich glaube, wir werden sie bald veröffentlichen. In den nächsten zwölf, höchstens 18 Monaten.

New Order – “Hellbent”

motor.de: Was machst Du eigentlich im Moment, abgesehen von der Veröffentlichung der Compilation? Gibt es noch andere musikalische Projekte?

Stephen: Ich habe jede Menge Projekte, wo soll ich anfangen. Zum Beispiel bin ich Schlagzeuger in Bernards Band [Bernard Sumner, Sänger von New Order; Anm. d. Red.], Bad Lieutenant. Da stecken wir gerade mitten in der Arbeit an einem neuen Album. Elf Songs sind schon fertig, nur den Gesang muss Bernard noch machen. Wir wollen das bis Weihnachten fertig bekommen. Und dann mache ich noch was mit Gillian [Gillian Gilbert, ehem. Keyboarderin von New Order; Anm. d. Red], das ist so Ambient-Zeug. Es wird auch eine vollständige Platte, wenn das mit dem Gesang endlich schaffen. Das Projekt hat nicht wirklich einen Namen, gerade heißt es bloß “Die nächste überfällige Platte”. Mir scheint, die Reihenfolge, in der man Dinge tun muss, ist: Musik, Texte, Gesang, Titel. Der Titel kommt immer zum Schluss.

motor.de: Über das Hacienda haben wir schon gesprochen. Das gesamte New Wave-Phänomen in Manchester, die sogenannte Madchester-Szene, ist heute schon eine Kultgeschichte. Ihr wart damals mit New Order live dabei. Was passiert heute in Manchester, was hat sich 2011 im Vergleich zu damals verändert?

Stephen: Manchester hatte schon immer eine interessante Szene, es gab dort schon immer viele großartige Bands. Was in den Neunzigern passiert ist, lässt sich damit beschreiben, dass alle Bands unter einem Label zusammengeschweißt wurden, durch das Hacienda und natürlich Factory [Factory Records, Label aus Manchester in den 70er und 80er Jahren, das u.a. Joy Division unter Vertrag hatte; Anm. d. Red.]. Sie wurden alle zusammen diese eine große Sache. Zumindest stimmt das weitgehend, natürlich stand nicht jeder unter diesem “Madchester”-Stempel. Heute gibt es Factory und das Hacienda nicht mehr und so gibt es einfach nur noch jede Menge einzelne Bands. Und es ist toll, dass sie alle so unterschiedlich sind. Ich weiß nicht, warum es so viele Bands in Manchester gibt. Vielleicht hat es etwas mit dem Fakt zu tun, dass es so viel regnet. Man muss einfach zu Hause bleiben und eine Band gründen, um etwas zu tun zu haben.

motor.de: Was ist mit dem Label Factory Records geschehen? Es gab mehrfach Neugründungen. Ist es noch immer ein ernsthaftes Projekt oder mittlerweile eher eine Idee der Vergangenheit?

Stephen: Das ist eine sehr gute Frage (lacht). Im Moment passiert da gar nichts. Ursprünglich wurde es in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern begonnen. Dann wurde Factory Two aufgemacht, was nicht sonderlich produktiv war. Irgendwann gab es Gerede darüber, dass wieder etwas unter dem Namen Factory gestartet wird: Nichts, wobei es ausschließlich um Platten geht, sondern eher um Bildungs- oder Modeprojekte. Aber in echter Factory-Tradition konnte sich niemand entscheiden, was es wirklich werden sollte. Deshalb ist es in die Brüche gegangen, bevor überhaupt irgendwas begonnen wurde. Aber ich wette, sie fangen nochmal an. Ich hoffe es jedenfalls.

motor.de: Siehst du dich noch als aktives Mitglied der Musikszene in Manchester? Unterstützt du junge Künstler?

Stephen: Tatsächlich lebe ich außerhalb von Manchester und habe eher weniger mit Bands aus der Umgebung gearbeitet. Ich hatte nicht die Zeit dazu. Aber ich würde es machen! Nur bisher hat niemand außer Bernards Band und mir und Gilian je versucht, in unser Studio reinzukommen. Ich habe aber eine junge Band aus London produziert, Factory Floor heißen sie, die sind richtig gut.

motor.de: In den 80ern habt ihr analoge Synthesizer-Keyboards und Drummachines benutzt. Die Technik hat sich seitdem enorm verändert. Wie hast Du diesen Wandel erlebt?

Stephen: Technologie und Musik, da dreht sich wohl alles im Kreis. Alle scheinen gerade dazu zurückzukehren, analoge Synthies zu benutzen. Das ist großartig, denn ich liebe den ganzen Kram! Und es gibt wirklich gute Gründe, ihn zu benutzen. Man mit den digitalen Synthies eigentlich prinzipiell alles tun, was man will. Aber die Tatsache, dass es so viele Möglichkeiten gibt, ist in sich schon das Problem. Man kann damit lange ins Blaue hinein probieren und manchmal findet man dabei vielleicht etwas Einzigartiges. Aber häufig verschwendet man auch ziemlich viel Zeit in diesem Prozess.

motor.de: Was schätzt du an analoger Technik am meisten?

Stephen: Es ist die Einfachheit und die Tatsache, dass man eigentlich gezwungen ist, auf eine bestimmte Weise zu arbeiten. Damit meine ich: Ganz offensichtlich wird man nie erreichen, dass ein analoger Synthie genauso klingt wie ein Orchester. Mit digitalem Equipment ist das hingegen schon möglich. Ich denke, beides hat heute seinen Platz. Damals hingegen, als Yamaha erstmals den DX7 [programmierbares, digitales Synthesizer-Keyboard; Anm. d. Red.] herausgebracht hat, dachten wir: “Oh ja, digitale Musik! Wir brauchen digitale Synthies, der ganze analoge Kram ist ein alter Hut und den wollen wir nicht mehr.” Aber heute verbringe ich wieder viel Zeit damit, meine alte Ausrüstung zu reparieren und es klingt wirklich richtig gut. Analoges hat eine bestimmte akustische Qualität, die man mit Digitalem nie oder kaum hinbekommt. Auch die Tatsache, dass man nur drei oder vier Knöpfe hat und damit unmittelbar so viele verschiedene Sounds produzieren kann, ist etwas, das digitale Technik mit ihren vielen Menüs und dem ganzen Kram nicht kann.

motor.de: Bei dieser schnellen Entwicklung, sei es Technik oder Musikstil – wie wird deiner Meinung nach die Zukunft der Tanzmusik aussehen? Siehst du irgendwelche Tendenzen?

Stephen: Blame me! Man könnte prinzipiell mit dem Finger auf irgendwas zeigen und sagen: Das wird die Zukunft der Tanzmusik. Das finde ich aber wirklich schwer. Ich lege zwar ab und an mal irgendwo auf, dann aber nicht unbedingt Dance. Heute ist alles so Genre-basiert geworden, es gibt so viele Kategorien in der Tanzmusik und es werden immer mehr. Ich habe keine Ahnung, was Progressive-House ist und was nicht. Diese Kategorisierungen finde ich unnötig. Im Grunde ist es wahrscheinlich schon Tanzmusik, wenn jemand mit einem guten Beat ankommt und eine schöne Melodie drüberlegt. Aber ich bin kein guter Beobachter, so ist es schwer, darüber zu reden. Dafür müsste man wahrscheinlich jede Nacht in Clubs verbringen und bis fünf oder sechs Uhr morgens bleiben. Und brrrr, meine Gesundheit würde leiden (lacht).

motor.de: Du bist doch wunderbar informiert. Keine Sorge. Wenn wir schon über Tanzmusik reden – ich denke, dass “Blue Monday” in Diskotheken ziemlich beliebt ist.

Stephen: “Blue Monday” ist eine lustige Geschichte. Es ist ein gutes Beispiel für einen Dance-Track. Aber es ist kein Song, es ist eher eine Art Maschine. Die Idee war damals, dass wir alle diese neuen, digitalen Geräte hatten. “Blue Monday” war eigentlich der erste Song, den wir mit diesem Equipment geschrieben haben. Wir wollten einen Song schreiben, bei dem wir einfach nur einen Knopf drücken müssen und dann nach Hause gehen können, weil die Maschinen völlig von allein arbeiten, der Song sich sozusagen von selbst spielt. Es ging einfach nur darum, etwas über die neue Technologie zu lernen. Wir hatten keine Ahnung, dass sich “Blue Monday” so lange halten würde. Wenn es heute in Clubs gespielt wird, klingt es fantastisch! Man glaubt in diesem Moment gar nicht, wie alt der schon ist. Das war wohl einfach nur Glück. Ich bin froh, dass wir das gemacht haben.

motor.de: Stört dich manchmal diese starke Assoziation mit dem Song?

Stephen: Ach weißt du, eigentlich nicht. So erinnern sich die Menschen wenigstens an irgendwas von dir.

New Order – “Blue Monday”

motor.de: Weißt du eigentlich, wie viele Coverversionen es davon gibt?

Stephen: Ist das eine Fangfrage (lacht)? Es müssen hunderte sein, es wurde andauernd gesampelt. Und das gefällt mir! Ich mag die Vorstellung, dass “Blue Monday” so eine Art Auto ist, von dem sich die Leute kleine Stücke mitnehmen und es irgendwie umbauen, sodass es immer weiter fährt.

motor.de: Hast Du ein Lieblings-Cover?

Stephen: Jetzt, wo du das gesagt hast, fällt mir nicht eine einzige Version ein (lacht)! Ich bin mir sicher, dass jemand eine Akustikversion gemacht hat. Es gab eine andere in dem Film “Twentyfour Hour Party People” [dokumentarischer Spielfilm über die Madchester Szene und das Hacienda von Regisseur Michael Winterbottom; Anm. d. Red.], obwohl New Order nie eine akustische Version von “Blue Monday” gemacht hat. Aber ich habe neulich erst eine gehört, weiß nur leider nicht mehr von welcher Band! (lacht). Ich dachte mir: Das ist gut, so hab ich den Song noch nie gehört. Das war so eine Folk-Version. Aber ich kann mir einfach keine Namen merken. Das ist das Problem, wenn man etwas auf Youtube oder Soundcloud findet und sich dann nicht weiter damit beschäftigt. Ich sollte mir Dinge wirklich aufschreiben.

Interview: Tabea Köbler


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