Zwangsbegeisterung und Kritikbeißhemmung, Dauervoting und irgendwie nette junge Menschen – “Unser Star für Baku” ist sturzlangweilig und bar jeden Charmes. Gut so!

Dauergrinst wie immer und findet alles ganz toll: “Jurypräsident” Thomas D. (Bild: ProSieben/Willi Weber)

Roman zum Beispiel trägt Basecap und kariertes Hemd oder Wollmütze und graues Shirt. Der 21-Jährige guckt permanent treuherzig, ist zweifelsfrei, was 14-Jährige als “süß” bezeichnen würden, er lächelt ein ganz klein wenig schelmisch und gibt den sympathisch-bodenständigen Justin Timberlake aus Neustadt/Wied. Überhaupt: Geradezu aufdringlich sympathisch sind sie allesamt, mit gediegener Schulbildung oder wenigstens höchst ehrenhaften Niedriglohnberufen im Pflegebereich. Sie können natürlich hervorragend singen, performen und sind auch sonst – hier gern beliebige sinngemäße Alternative einsetzen – ganz ganz ganz toll. Das sagt zumindest die Jury immer und bei jedem und man fühlt sich ein wenig verarscht, weil man das selbst daheim irgendwie gerade ein bisschen anders gesehen und gehört hat.

Aber hier herrscht Volkes Stimme – auch das wird die Jury nicht müde, dauernd zu betonen, worauf dann scheinbar tatsächlich immer ein paar Leute zum Telefon greifen, wie das “Live Voting” prompt anzeigt. Da ist es natürlich egal, dass es nach halbwegs geschmackssicheren Kriterien keineswegs eine gute Idee war, ausgerechnet einen Song der Jackson 5 hinzurichten (Ornella) oder aus Cee-Lo Greens R’n’B-Ballade “Fuck You” eine unangenehm aufgesetzt wirkende “Rock”-Show zu machen. “Ich finde es grandios, wie du hier immer abgehst”, meint Jurypräsident Thomas D zu Sängerin Shelly allerdings, und scheint dabei das grässliche Overacting zu meinen, das sich wohl endgültig als Standard aller Casting-Shows durchgesetzt hat. Diese hier heißt “Unser Star für Baku” und muss eine Nachfolgerin für Lena finden. Eine “nationale Aufgabe” wurde deren Auswahlprozedur für den früher einfach mal als “Grand Prix” bekannten Schlagerwettbewerb der europäischen Fernsehanstalten damals vom Show-Moderator genannt. Zumindest derlei Mütchen scheint sich im Moment drastisch abgekühlt zu haben, sogar in Sachen Quote. Die ist eher so mau. Genau so, wie die Kandidaten, die Jury, die Show und das Konzept, das schon im zweiten Durchlauf nur noch das auf die Bühne bringt, was man an Popmusik gemeinhin sturzlangweilig findet: Nette junge Menschen von nebenan singen belanglose Coverversionen von richtigen Künstlern. Songs, die jemandem gefallen, der – wie Roman – Alicia Keys für die “größte Musiklegende aller Zeiten” hält.

Nette junge Menschen singen nette Liedchen von echten Küstlern – oder was sie dafür halten. 

Das Problem ist, dass man es den Kandidaten nicht wirklich übel nehmen kann, was sie da treiben. Weil sie sich nicht gleich von vornherein als bildungsfern disqualifizieren, als hemmungslos mediengeil oder einfach nur peinlich. Sie sollten nicht vorgeführt werden, sondern gefördert, heißt es dann immer. Es ist das Abgrenzungsmerkmal zum Bohlen-Kaliber, zur Grundgehässigkeit mit der Kandidaten in Castingshows sonst zum Abschuss freigegeben werden. Der Pferdefuß dieses Ansatzes scheint aber ein penetranter Begeisterungszwang, eine ständig präsente Kritikbeißhemmung zu sein, wie man auch beim etwas schrilleren aber eben auch als “ernsthaft” verkauften Konkurrenzformat “The Voice” sehen kann. “Unser Star für Baku” verzichtet sogar auf jedweden halbwegs ernstzunehmenden Dissens. Dass dies nicht einer allgemeinen moralischen Makellosigkeit entspringt, zeigt Stefan Raab dann gleich im Anschluss bei “TV Total”. Dort betreibt er nicht nur die übliche tiefere Kandidatenausschlachtung, sondern führt auch lustvoll all die Prollo-Nieten und Untalente aus den Vorcastings vor.

Müssen dauergrinsen und haben den Charme von … nun ja … Pro-Sieben-Moderatoren: Sandra Rieß und Steven Gätjen. (Bild: ProSieben/Benedikt Müller)

Drei Jurymitglieder ohne jede Entscheidungsbefugnis und zwei Moderatoren ohne jeden Charme braucht es für die Baku-Show, um immer wieder begeistert zu tun und Interesse an den eben doch eher uninteressanten Typen auf der Bühne zu simulieren. “Typen” sind nämlich auch hier vorausgewählt worden. Es gibt die toughe Rockerbraut, den gefühligen Tim-Bendzko-Verschnitt, die selbstbewusste junge Popsängerin mit dem verwegenen Kurzhaarschnitt, die kecke Powerfrau und natürlich auch eine Art Lena-Imitat. Niemand jedenfalls, dem man ernsthaft eine Rolle als Kulturbotschafter anvertrauen möchte, nichtmal in Aserbaidschan. Und nichts weniger soll hier ja gefunden werden. Seit Lenas Überraschungssieg und der im letzten Jahr folgenden gigantischen Vorsprung-durch-Technik-Show im eigenen Land ist man ja wieder wer im europäischen … äh, tja … was eigentlich?

Nichtmal der korrekte Name für den “Eurovision Song Contest” lässt sich ohne Weiteres auf der Homepage des Casting-Spektakels finden, versteckt ist er gerade mal in den Schlagworten uralter Lena-Meldungen. Das ist der Grad an Wertschätzung, den man immerhin uneingeschränkt zu teilen vermag. Denn bloß, weil auch mal wieder eine Deutsche gewonnen hat, ist diese obskure Veranstaltung nicht einen Deut sinnvoller, durchschaubarer oder repräsentativer und leider auch alles andere billiger für den Gebührenzahler geworden. Es bleibt herausragend schrottiges Gaga-Entertainment, ein Festival einzig für Trash-Fans oder Freunde exotischer Schlager-Exhibitionisten. Eine Veranstaltung, die hierzulande fast schon in die stille Nichtbeachtung hinein verstorben wäre – gäbe es nicht den erbarmungslos zielsicheren Geschäftssinn eines Stefan Raab. Spätestens dafür, den ESC, diese Horrorshow des schlechten Geschmacks, in scheinbar wehrunfähigen ARD-Kreisen wieder zum unausweichbaren Pflichtthema gemacht zu haben, wird er in die Hölle kommen. “Unser Star für Baku” allerdings könnte es fast wieder rausreißen. Hier gibts ja nicht mal Trash oder Gaga, sondern einfach nur nette junge Menschen mit netten Liedchen. Es fällt leicht, sich nicht dafür zu interessieren.

Augsburg