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Papa schlägt Zäune

Nachdem die Universal das Schlager und Volksmusik Label Koch Musik gekauft hatte, ging es für mich jedes Jahr um diese Zeit auf steilen Straßen in die Dolomiten. Anfangs hatte ich Angst. Nicht vor der Steigung, sondern vor dem Kastelruther Spatzenfest, dem eigentlichen Anlass dieser Reisen im frühen Oktober.

Dort oben, mehr als über 1000 Meter über dem Meeresspiegel im Südtiroler Castelrotto, standen schon Hunderte Reisebusse. Die meisten von ihnen mit deutschen Kennzeichen. Man kam durch das 6.000 Seelen Dorf kaum mehr durch, alles war vollgeparkt. Mein erster Weg führte mich vorbei an den Bussen zu einem einsam gelegenen Gehöft noch weiter oben auf dem Berg (gefühlte 1500 Meter). Auch vor dem Hof das gleiche Bild: Busse. Die Bustouristen standen in Reih und Glied und ganz vorne vor der Schlange saß ein kleines Mädchen an einem wackligen Campingtisch. Sie verkaufte CDs. Die hatte sie Norbert Rier zuvor alle signieren lassen.

Mein Begleiter fragte “Sag mal wo ischt denn der Papa?” und die circa Zehnjährige antwortete durch ihre Zahnlücke: “Auf der Alm, Zäune schlagen”.
500 Höhenmeter weiter oben, über Feldwege die keine Busse zulassen, standen wir dann ganz allein vor ihm und einem Dutzend brauner Kühe an einem Steilhang. Als Norbert Rier uns sah, ließ er den großen Hammer fallen, war erst erfreut und dann beunruhigt. “Schön dass ihr gekommen seid, aber yessas ist es wirklich schon so spät, ich muss gleich zum Soundcheck…”

Das Klappern von den Rahmen der Platinschallplatten im Kofferraum, auf dem Weg nach unten, erinnerte mich an meine eigentliche Mission. Und die alte Angst kam trotz der herzlichen Begrüßung wieder hoch: Dass ich hier nicht hergehörte, mich eher mit Punk und New Wave denn mit Jodeln und Blaskapellen
sozialisiert hatte, war mir anzusehen. Ich war vielmehr der merkwürdige Rock-Manager aus der Großstadt, der die unabhängige Volksmusikschmiede Koch gekauft und in einen Konzern integriert hatte und als solcher sollte ich im Festzelt bald die Edelmetalltrophäen überreichen.
Ich hätte mich ausgebuht und mir zumindest zutiefst misstraut. Ich, der so gern über kulturelle Integrität plauderte war hier alles andere als integer.

Das Festzelt war gigantisch. 19.000 Menschen aus dem Häuschen und auf den Bänken. Nicht nur einmal, sondern das ganze Wochenende bei allen vier Vorstellungen im größten Zelt Europas. Das Spatzenfest war fast wie auf dem Oktoberfest, es roch aber nicht so arg nach Urin und das Gejohle der Menschen klang weit weniger nach einer Tiermeute des nachts im Urwald. Vor allen Dingen: Sie sahen viel weniger homogen aus, als auf der Wiesn. Logisch, das ein oder andere Dirndl war am Start, aber genauso auch Metallica T-Shirts und Röhrenjeans vertreten.

Bevor mich der Landeshauptmann (so eine Art Ministerpräsident) etwas unvermittelt mit einem Klaps auf den Rücken auf die Bühne schubste (er schien hier so etwas wie ein Zeremonienmeister zu sein) bekam ich Backstage noch einen selbstgebrannten Schnaps in die Hand gedrückt. Ich verschüttete die Hälfte aufs Anzughemd, als ich hörte wie man mich als Entdecker von Rammstein, Tocotronic und WestBam ankündigte. Historisch war das nicht ganz korrekt, aber das richtig zustellen blieb keine Zeit. Fröhliches Gejohle als ich auf die Bühne kam, mit siebenmal Platin auf dem Arm.

Der Abend wurde noch lang, erst vor der Bühne (die Kastelruther Spatzen spielten geschlagene vier Stunden) und später an der Bar des Dorfgasthauses (wird von einem der Spatzen geführt). Ich lernte viele Menschen mit schwerem Akzent kennen und viele wollten wissen wie denn Rammstein, WestBam, Tocotronic und all die anderen so menschlisch gesehen drauf seinen. Die Leute waren jung, waren alt, aber immer herzlich und neugierig. Hier waren sie alle weil dies mit dem Kern ihrer Identität zu tun hatte. In ihrem kulturellen Selbstverständnis sahen sie sich nicht als Deutsche, nicht als Österreicher, Schweizer und Italiener, sondern eben als Alpenländer. Egal ob man dann noch nebenher Panterra, Madonna
oder Nicole hört, Volksmusik war das Bindeglied.

Es ist es scheinbar noch immer. denn all dies fiel mir ein, als ich in der Zeitschrift “Auf eins” (Untertitel “In Deutschland ist Musik”) den Artikel übers kommende Spatzenfest las. Das Heft liegt in meinem Büro weil es mein Freund Joe vorbei gebracht hat. Joe heißt eigentlich Josef, ist der Sohn des ehemaligen tansanischen Botschafters in Deutschland und wuchs in Süddeutschland, streng katholisch auf. Er ist Erfinder und Herausgeber von “Auf Eins”, spielte bis vor wenigen Jahren in einer Rockband und entdeckte für die Universal die Band Juli. Hier schließt sich ein Kreis und das was drin ist, ist angenehm wirr und multikulturell.

Darauf ein Prosit

Tim

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