Für die einen das Enfant Terrible des (Mainstream-)Techno, für die anderen die gefeierte Ikone einer ganzen Generation – Paul Kalkbrenner mit seinem neuen Album “Icke Wieder”.
Es heißt, wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich eine andere. Die zugefallene Tür hieß in diesem Fall Braincandy. 1997 gab die Berlinerin Ellen Allien ihr erstes Label auf, um zwei Jahre später die Talentschmiede zu gründen, welche internationale Größen wie Modeselektor, Apparat oder Sascha Funke hervorbrachte: Bpitch Control. Kurz nach der Gründung gab die Label-Dame die EPs “Largesse” und “Friedrichshain” eines jungen Mannes heraus, der sich bis dahin noch Paul dB+ nannte. Ein in Leipzig geborener Schulabbrecher, der keine Ausbildung vorzuweisen hatte und sich mit dem Job als Cutter beim Fernsehen Mitte der Neunziger Jahre das erste Equipment kaufte, welches er noch heute bei Auftritten benutzt.
Der Rest der Geschichte dürfte bekannt sein: Der Kinoerfolg “Berlin Calling”, mehr als 170.000 verkaufte Exemplare des gleichnamigen Soundtracks und ein irrwitziger Tour-Marathon. Die Zusammenführung dieser Erfolgsgeschichte reichte er mit “Paul Kalkbrenner 2010 – A Live Documentary” selbst nach. Statt kleinen Clubs bespielt der Ostberliner nun riesige Hallen, auf der ganzen Welt. Kurzum: Paul ist der von (Mainstream-)Techno-Deutschland gesuchte und gefundene Superstar. Dass solche Erfolgsgeschichten Neider und Argwöhner auf den Plan ruft, liegt in der Natur der Sache. Es muss nicht erst ein Konzert vor Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sein, um feuilletonistische Schmäh-Kritiken und gebloggte Hasstiraden zu ernten. Dabei muss man lediglich einen Blick auf die Namen der neuen Tracks werfen, um zu verstehen, dass Paul Kalkbrenner ein grundsympathischer Musikschaffender ist. Mit “Kleines Bubu”, “Sagte der Bär” oder “Schnakeln” warten bereits zahlreiche Songs mit Schmunzel-Charakter. Erfolg hin, Neid her – Paul ist wieder da.
Paul Kalkbrenner 2010 – A Live Documentary: “Altes Kamuffel” (Berlin)
Abgesehen vom Cover – sicherlich Anwärter für das hässlichste 2011 – lädt der Titel zur interpretativen Fantasie ein. Mit “Icke Wieder” kokettiert Kalkbrenner mit der typischen Flapsigkeit, die die Massen abermals in seinen Bann ziehen wird, alleine weil sein Name auf dem Cover steht. “Icke Wieder” bedeutet aber auch: Nun hören wir wieder den alten, den früheren Paule, den DJ vor dem Berlin-Calling-Wahnsinn. Diese Bemühungen sind den sechzig Minuten nicht eben peripher anzumerken. Mit der Sommerhymne “Böxig Leise” schlägt er die perfekte Brücke zwischen “Berlin Calling” und dem neuen Song-Zehner. So als ob “Sky And Sand” noch im Hintergrund laufen würde, legt das Eröffnungsstück mit warmen Gitarren-Loops das allzu faszinierende Kalkbrenner-Gen offen. Ein auditiver Flashback in die Zeit, als überall seine Songs gespielt wurden. Es ist ein emphatischer, zum Träumen (und Feiern gleichermaßen) einladender Song, der über den minimalistischen Tellerrand nur selten Ausblicke wagt.
Auch das charmant angekündigte “Jestrüpp” überfordert die Ohren nur in Maßen, arbeitet es doch mit jenem analogen Charme – Gitarren-Samples wissen die Interludien hier gewitzt zu füllen –, den Kalkbrenner bereits auf seinem 2004er “Self” anbot. Der Sound ist ein wenig kühler, doch alles andere als morbid. Die atmosphärische Inszenierung schreit nicht mehr nach Pop-Durchdringung. Die mit Berlin-Calling-Reminiszenzen angesättigte erste Hälfe wird von “Kleines Bubu”, ein Kosename für seine Freundin DJane Simina Grigoriu, in eine sperrigere, bisweilen experimentelle Richtung entführt. Die charmanten Streicher-Flächen kreieren mit den panflötigen Interventionen eine Folklore-Aura, die in ihrem funkigen Gewand nahezu grandios ist. “Sagte Der Bär” und “Kruppzeug” verhalten sich im dialektischen Sinne wie die These zur Antithese. Während ersterer mit stampfender Monotonie und einem ebenerdigen Piano an die düsteren Pforten der Melancholie pocht, greift Kalkbrenner für “Kruppzeug” ganz tief in seinen (berühmten) Alu-Koffer. Die puristische 4/4-Takt-Romantik türmt mit klimpernden Snare-Schlägen derart bassdurchdrungene Walls of Sound auf, dass die Finsternis nicht allzu lange von Bestand bleibt.
Paul Kalkbrenner – “Icke Wieder” (Album-Sampler)
“Icke Wieder” ist kein Rave’n’Roll-Album á la “Berlin Calling”. Vielmehr zieht Kalkbrenner zaghafte Konsequenzen aus dem Erfolg, auch wenn die Tanzflächen-Tauglichkeit im Schaffen des Berliners ohne Zweifel erhalten bleibt. Die neuen Techno-Tracks haben eine bemerkenswerte Sogkraft, die zwar hier und dort durch Monotonie gebremst wird, insgesamt jedoch eine Energie zu transportieren versteht, die gradliniger kaum sein könnte. Dass es nicht ein einziger Vocal-Track unter die neuen Songs geschafft hat, ist beabsichtigtes Kalkül. Denn jene, die sein Können lediglich auf “Sky And Sand” reduzierten, dürften ihre Schwierigkeiten mit dem neuen Songkonglomerat haben – ein Statement, das sitzt. Die Verabschiedung übernimmt das siebenminütige Monstrum “Der Breuzen”. Das samt powernden Basslines, saxophonistischen Einsprengseln und brummenden Beats pulsierende Highlight, bildet nicht nur den gelungenen Abschluss einer bemerkenswerten Platte, gar reicht Kalkbrenner ein Patentrezept dar, wie elektronische Kunst in die Alltagswelt übersetzt werden kann.
Paul Kalkbrenner – “Der Breuzen”
Was mit zwei seichten EPs begann, fand mit “Berlin Calling” seinen vorzeitigen Schmelzpunkt und wird mit dem aktuellen Album ordentlich fortgesetzt. Dass der Erfolg im Falle von Paul Kalkbrenner keine Bürde ist, zeigt “Icke Wieder” eindrucksvoll: kein Aussitzen, keine Wiederverwertung, kein Abklatsch. Der Musikproduzent steht zwar nicht für elaborierten Techno, dafür macht er diesen für alle Schichten zugänglich. Rave-Musik für’s Volk.
Sebastian Weiss
VÖ: 03.06.2011
Label: Paul Kalkbrenner Musik / Rough Trade
Trackliste:
01 Böxig Leise
02 Gutes Nitzwerk
03 Jestrüpp
04 Schnakeln
05 Kleines Bubu
06 Des Stabes Reuse
07 Sagte Der Bär
08 Kruppzeug
09 Schmökelung
10 Der Breuzen
No Comment