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“Wenn wir uns sehen, streiten wir uns” – Phillip Boa im motor.de-Interview

Seit einigen Jahren oben auf, musste Phillip Boa lange durch ein tiefes Tal schreiten – mit “Loyalty” meldet sich der “German Lord of Indiecult” auf der Höhe des Geschehens zurück und sprach mit motor.de offen über seinen Status als Musiker und den vielen Hindernissen, die seine Karriere manchmal aufhielten.

(Fotos: Ole Bredenförder)

Als der Fernsehsender RRB vor ein paar Jahren ein Special zu Phillip Boa brachte, reichten die zehn Minuten Sendezeit vollkommen aus, um einen ganzen Spielfilm daraus zu machen: Das Löschen von fertigen Mastertapes Mitten in der Nacht kam darin vor; Label Manager, die von Gürtelrosen nach der Zusammenarbeit mit ihm sprachen ebenso und natürlich Boa selbst, der ehrlich von all den Geschehnissen berichtete und fast verlegen grinsen musste, ob der eigenen Spleenigkeit. Seit knapp dreißig Jahren heizt er der deutschen Indieszene ein, startete als einer der wenigen in den Achtziger mit englischsprachiger Musik und konnte Anfang der Neunziger sogar die Londoner Presse von seinen Qualitäten überzeugen – “nicht nur die”, erklärt er beim Interviewtermin ein wenig stolz, “sogar die Bravo hat meine ersten Alben fast ausnahmslos zur ‘Platte der Woche’ gekürt. Das war schon verrückt damals.” 

Richtig verrückt wurde es allerdings erst im Anschluss, denn wie ein Künstler die kommerziell erfolgreich anlaufende Karriere dermaßen in Sand setzen kann, ist fast schon legendär. “Ich werde nicht benutzt, ich suche mir die Medien, mit denen ich was mache nach wie vor selber aus und will nicht zusammen mit Schwachsinnsgruppen wie Abstürzende Brieftauben in so genannten Indie-Sendungen auftreten”, tönte er damals gegenüber dem Feuilleton und schien das Spiel einfach nicht mitspielen zu wollen: “Ganz ehrlich, ich wusste zu diesem Zeitpunkt einfach nicht, was das soll – diese Rolle als Star, der für alle durchsichtig wird, hat mir Angst gemacht. Ich habe mich nicht absichtlich gewehrt, aber eben meine Meinung gesagt.” Erklärt Boa vor einem Glas Wasser sitzend, das ihm nur selten über die Lippen kommt – vielmehr streicht er sich bei seinen Ausführungen häufig durchs Haar, richtet den Hemdkragen und schlägt die Beine übereinander.

“Loyalty” heißt das neue Album und ist einmal mehr ein Beweis dafür, dass der Voodooclub und deren Vorsteher nichts verlernt haben – teilweise klingen die Songs besser als zu seiner großen Phase vor über zwanzig Jahren: Rock, Indie und der gewohnt eigenwillige, manchmal ins Stakkato abdriftende Gesang prägen das Klangbild und sind zugleich die Grundlage für ein Gespräch über Karriereverläufe, Zusammengehörigkeitsgefühl und Kleinstädte, die besser sind als ihr Ruf.

motor.de: Es ist in den letzten Jahren zur Regelmäßigkeit geworden, dass zwischen zwei neuen Alben deine Re-Release-Reihe fortgesetzt wird und du ältere Alben mit einer Tour ausstattest – was reizt dich daran?

Phillip Boa: Das machen ja alle – also in Deutschland nicht, aber die Engländer sind da ganz weit vorn. Von Primal Scream über The Charlatans bis hin zu Mercury Rev ist dies dort Gang und Gebe. Alles coole Bands und ich stelle mich ebenso der Herausforderung, weil es bislang gut funktioniert.

motor.de: Welches deiner Alben würdest du denn als DAS Meisterwerk bezeichnen?

Phillip Boa: Ist schwierig zu sagen, aber wenn es diese berühmten Listen der “500 besten deutschen Alben” gibt, ist meistens “Hair” dabei – mir ist das recht, weil die gesamte Phase gut war.

motor.de: Auffallend ist, dass es meist kleinere Städte sind, die du bei den Re-Release-Touren ansteuerst.

Phillip Boa: Wer mir einen Auftritt anbietet, der in einem gewissen Rahmen stattfindet, kann mit mir rechnen. Wenn du pro Reise 25 Gigs organisierst, sollten nicht fünf davon in einer Metropole stattfinden und auch wenn man mir das niemand glauben mag: Die Leute in Singen sind bei einem Konzert von Phillip Boa nicht anders drauf als die in Berlin oder Köln.

motor.de: Woher kommt der kreative Drang in den letzten Jahren, da es doch sehr viele Konzerte und parallel neu erscheinende Alben gibt?

Phillip Boa: Zwischen 2001 und 2009 war es schwierig, ich war desillusioniert und es schien nicht meine Zeit – die Alben waren okay, aber manches verstehe ich nicht mehr. Eine gewisse Faulheit machte sich damals breit und wirklich inspiriert war ich nicht.

Phillip Boa and the Voodooclub – “Loyalty”

motor.de: Würdest du dich inzwischen als altersweise bezeichnen – anders: Ist die Betriebstemperatur ein bisschen runtergegangen?

Phillip Boa: (lacht) Stories wie das Löschen ganzer Mastertapes gibt es immer noch, die bekommt nur kaum jemand mit. Das ist der Unterschied zwischen damals und heute: Bei einer Tournee kann es weiterhin passieren, dass das gesamte Equipment zu Bruch geht und ich mal kurz austicke. Allerdings muss das schon echt sein und wenn es dir eigentlich gut geht, kannst du auf solche Sachen verzichten.

motor.de: Wie läuft es derweil mit Pia Lund? Durftest du dieses Jahr auf ihre Geburtstagsparty?

Phillip Boa: (verdutzt) Wie? Ich habe euch im letzten Gespräch erzählt, dass sie mich letztens ausgeladen hatte?

motor.de: Euer Verhältnis ist ja immer ein Thema.

Phillip Boa: Dieses Jahr war ich wieder eingeladen und auch da – man darf halt nicht vergessen, dass sie einst meine Frau und meine Bandkollegin war und nach der Scheidung ging es ihr ohne mich wahrscheinlich besser oder so. (Überlegt) Eigentlich nicht, denn ich weiß, dass sie das Tourleben vermisst hat.

motor.de: Ganz schön in diesen Zusammenhang: Auf “Loyalty” gibt es ein paar Liebeslieder. Wie kam es dazu, dass dieses Thema recht offen verhandelt wird?

Phillip Boa: Das hat nichts mit ihr zu tun. Wenn wir uns sehen, streiten wir uns. Letztens war sie bei mir und es ging um Fußball und Patriotismus – was Pia allerdings mit Nationalismus verwechselte und (stockt), es wurde ein furchtbarer Streit. Auf Tour hingegen ist alles super, da kommen wir bestens miteinander aus.

motor.de: Passend dazu steht das Thema Loyalität im Mittelpunkt des neuen Albums und ein Hund wurde zentral auf dem Cover platziert.

Phillip Boa: Vorhin meinte jemand, dass Hunde keine loyalen Tiere seien, was mich echt erstaunte und vor allem irritierte, als plötzlich Katzen als solche bezeichnet wurden. (Denkt nach) Es ist etwas, dass immer mehr in den Hintergrund rutscht: Den Menschen geht Loyalität verloren und es ist scheiße, wenn jeder nur noch an sich denkt. Es gibt kaum Neinsager, Zweifler oder den Untergrund generell. Aber ich verhasple mich hier gerade, Songs erklären ist nicht meine Stärke.

motor.de: Für viele warst du vor zwanzig Jahren einer der wenigen deutschen Künstler, die es sich lohnte anzuhören. Hast du deine Sonderstellung auch so wahrgenommen?

Phillip Boa: Da fragst du mich was, kann man schwer beantworten, weil es sich ja um die eigene Musik dreht. Aber klar, auf den Konzerten waren genau die Leute in den ersten Reihen, die sonst eher englische oder amerikanische Künstler hörten und mir ging es kaum anders: Ein Paul Weller bedeutete mir schon immer viel.

mtv.de: Mille von Kreator meinte letztens in einem Interview, dass du inzwischen wieder voll zu deiner Stärke zurückgefunden hast – empfindest du das auch so?

Phillip Boa: (Überlegt) Es macht mir heute Spaß, weil meine Band super ist und das hinbekommt, wie ich es mir vorstelle. Das liegt nicht nur an mir, ich bin wirklich nicht der klassische Einzelgänger.


Marcus Willfroth

Phillip Boa And The Voodooclub – Live 2012:

28.09.12 Hameln – Sumpfblume
29.09.12 Erfurt – Gewerkschaftshaus
04.10.12 Koblenz – Café Hahn
05.10.12 Konstanz – Kulturladen
06.10.12 Aschaffenburg – Colos Saal
25.10.12 Ingolstadt – Eventhalle Westpark
27.10.12 München – Freiheiz
01.11.12 Weinheim – Café Central
03.11.12 Freiburg – Jazzhaus
08.11.12 Trier – Exzellenzhaus
09.11.12 Reutlingen – Kulturzentrum
10.11.12 Köln – Gloria
16.11.12 Fulda – Kreuz
17.11.12 Dresden – Alter Schlachthof
23.11.12 Celle – CD-Kaserne
24.11.12 Münster – Sputnikhalle
30.11.12 Lingen – Alter Schlachthof
01.12.12 Bochum – Zeche
07.12.12 Kassel – Panoptikum
08.12.12 Berlin – Huxley’s Neue Welt

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