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There Are Witches In The Woods

Quizfrage: Welche Blues Rock–Metropole liegt zwischen Tampere (Finnland) und Memphis? Richtig, Saarbrücken. Von dort stammen Pretty Lightning und verbinden auf ihrem Debüt dronigen Delta-Blues mit finnisch unterkühlter Eleganz. Wir kaufen ein “G” und lösen: Grandios.

Neulich auf der Leipziger Buchmesse: Das ARD-Studio platzt aus allen Nähten. Jutta Ditfurth sinniert über die Zukunft: Kapitalismus böse, eigentlich alles beschissen, man müsse was unternehmen, so der O-Ton. Im Westen also nichts Neues. Interessanter wird es eine Ecke weiter, denn da sitzt auf einer Bühne – in Gewänder drapiert – ein Swami. Was ein Swami ist? Die deutsche Abart kennt man aus der Fußgängerzone, in curryfarbene Kleider gehüllt, trommelt er auf einem Tambourin, lobpreist Hare Krishna und möchte einem mitunter ein Buch schenken – für eine gütige Spende, versteht sich. “Was denn Meditation sei?” fragt man ihn, als am Rande der Veranstaltung ein etwas zu lautes Lachen zu vernehmen ist.

Prompt ernten die Zweifler vernichtende Blicke einer erstaunlich homogenen Gruppe von Frauen in den Mittvierzigern. Woher rührt die Skepsis? Freilich hat es heute oft den leidlichen Anschein eines netten Zeitvertreibs für die spirituell erfahrene Prenzlauer Berg-Hausfrau, die zwischen Dinkelbrötchen und Soja-Latte einen Moment der inneren Ruhe genießen möchte – in musikalischer Hinsicht inspirierte der Gedanke jedoch bereits zu dem einen oder anderen Klassiker im popmusikalischen Kanon, der sich gelegentlich in der elterlichen Plattensammlung wiederfindet. “Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band” ist wohl der prominenteste Vertreter. Der experimenteller disponierte 68er besitzt vielleicht noch eine Vinyl-Ausgabe von Muddy Waters’ “Electric Mud”, dem toten Winkel zwischen Psychedelic Rock und Blues, oder die erste Platte der Stooges.

Pretty Lightning – “Down With The Moon”

Im Zwischenraum von Letzteren könnte man auch auf Pretty Lightning stoßen. Die stammen allerdings nicht aus so geschichtsträchtigen Weltstädten wie Chicago oder Detroit, sondern – verdutztes Augenreiben vorprogrammiert – aus Saarbrücken. Das wiederum gilt nun nicht unbedingt als Metropole des Blues. Noch nicht, könnte man sagen, denn der kulturelle Brückenschlag in die Heimat am Mississippi gelang bereits vor vier Jahren. Damals veröffentlichte O.K. Stars Records, ein kleines Label aus Memphis, angetan von derartigem musikalischen Provenienzbewusstsein, die ersten Demos des Zweigespanns als EP. “Keine große Sache”, sagen Christian Berghoff und Sebastian Haas heute, “der Kontakt kam damals über MySpace zustande. Viel mehr ist über die Veröffentlichung hinaus nicht passiert. Wir wissen auch nicht, ob es die Platte noch gibt.” Macht nichts, denn mit “There Are Witches In The Woods” liegt nun ein amtlicher Nachfolger vor, der – so weit so kosmopolitisch – auf Fonal Records, einer finnischen Plattenschmiede mit eher experimentellem Charakter, veröffentlicht wird.

Pretty Lightning – “Blazing Bright”

Dennoch fügt er sich verblüffend gut ins Raster, bildet das erdig dröhnende Grundgerüst aus Schlagzeug, bluesigen Gitarrenriffs und blechbüchsenartig verzerrtem Gesang doch einen exakten Gegenpol zum sonst eher leichtfüßig agierenden Künstlerkonvolut. Hier und da schimmert, verborgen unter Feedback-Kaskaden und wuchtigen Trommelgewittern, eine Krautrock-Referenz durch. Die könnte von einem inspirativen Impuls des Datashock-Kollektivs herrühren. Was das nun wieder sei? “Eine Gruppe von befreundeten Musikern um Pascal Hector, dem Typ hinter MeuDiaDeMorte Records” erklärt es Sebastian.

Ein Blick auf die Homepage offenbart Pink Floyds “Dark Side Of The Moon”–Prisma, als etwas, was – ganz in Flaming Lips-Manier – aussieht wie ein schmelzendes Stück orange Schokolade. Als “Free Folk/Grusel Kraut-Bande” beschreiben es die Beiden und rufen parabolische Assoziationen zum Swami wach. Allerdings zum bärtigen, zerfledderte Jeans tragenden, bewusstseinserweiterten Swami – jenem eben, dessen Geist die Musik der 60er Jahre beflügelte. Im Westen also nichts Neues. Aber vielleicht bedeutet Rückbesinnung auf Altbewährtes in gewissem Maße ja auch Fortschritt, Frau Ditfurth.

Robert Henschel

Pretty Lightning – “There Are Witches In The Woods”

VÖ: 27.03.2012

Label: Fonal Records

Tracklist:

01. Down With The Moon
02. We’d Rather Be Some Criminals
03. Blazing Bright
04. Hail Hail
05. See No Evil
06. Old Lord
07. Brother Gold Miner
08. The Sound Of Thunder
09. An Old Wife’s Tale
10. The Wizard

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