Langsam ist das neue Schnell, der Abschied eines Pioniers, das Comeback des Souls und: Dubstep ist auf einmal Pop – oder doch tot? motor.de blickt zurück auf das elektronische Jahr 2011.
Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir – lautet eine Volksweisheit aus Michael Endes Roman Momo. Bereits 1973 wusste der deutsche Schriftsteller mehr über die modernen Zeitstrukturen des 21. Jahrhunderts zu berichten, als so manches Zeitmanagementseminar von Jungunternehmern. Die Zeit gehört zu den großen Paradoxa und wichtigsten Gütern heutiger Wissensgesellschaften. Durch den erweiterten Einsatz moderner Technik sparen wir sie ein, dennoch verliert sie keineswegs ihren Charakter der Knappheit, eher noch verstärkt sich das Fehlen der “Freizeit” durch andauernde Synchronisationsprozesse.
Die Pessimisten rufen die Zeitkrise aus, andere wiederum den rasenden Stillstand. Eine Situation, die John Cage wohl am eindrucksvollsten mit seinem Werk “4’33”” auf den Punkt brachte. 1952 in New York aufgeführt, konfrontiert es den Zuhörer mit 273 Sekunden Stille. Kein einziger Ton erklingt während des Stücks, das die Demarkationslinie zwischen Pioniergeist und dem Das-kann-ja-jeder-Reflex eindrucksvoll zu ziehen weiß. Der 21-jährige Amerikaner Nicolas Jaar reichte in diesem Jahr ein Album nach, das auch vom Titel her dem Geiste Cages durchaus nahe steht: “Space Is Only Noise“. Ereignislosigkeit, Entschleunigung oder Gemächlichkeit – die Zuschreibungen waren und sind mannigfaltig, weisen jedoch alle auf den puristischen Habitus hin, der sich 2011 gegen die funktionale Four-To-The-Floor-Expressivität behauptete.
Nicolas Jaar – “Colomb”
Die Ästhetik wurde in den Räumen dazwischen gesucht; Absolution in der Reduktion gefunden. Das Unspektakuläre wurde zum Ereignis, die Langsamkeit zur aufwühlenden Ekstase – Musik im Slow-Motion-Modus muss kein Stillstand bedeuten. Der 23-jährige Brite James Blake spaltete nicht nur mit seinem Debütalbum, gar sah er sich einem “neuen” Genre gegenüber, das ihm zugeschrieben wurde, an ihm haftete – gänzlich unbeachtet der Tradition des Genres, das selbst ein Hybrid darstellt. Glaubt man den Prophezeiungen, so traute sich das Bass-Kontinuum aus seinem kühlen Keller und flirtete mit der Popwelt (siehe Katy B, siehe SBTRKT). Dabei waren bereits Mount Kimbie mit ihrer eigenwilligen Variante ins Post-Dubstep-Zeitalter getreten. Selbst Veteranen wie Kode9 oder Burial haben sich 2011 mehr auf die Subbestandteile gestützt oder gleich technoides Terrain betreten. Letztlich führte Blakes Zerrbild vom Dubstep zu einer angenehmen Falsifikation, steht doch in der nicht veröffentlichten Bibel der Populärkultur geschrieben, dass das wichtigste Charakteristikum fortschrittlicher Musik ihre Trendresistenz sei.
Mit ausreichend Antikörpern ausgestattet war die zweistündige Widmung (keine Chance für die Generation Track-Picking) des ehrwürdigen Münchener Jazz-Labels ECM von Ricardo Villalobos und Max Loderbauer. Dass das Motto der renommierten Plattform “The most beautiful sound next to silence” lautet, bekommt in diesem Jahr eine neue Bedeutung. Retrospektiv steht ihr faszinierendes Experiment in einer Reihe mit zahlreichen Verbeugungen, die ihre Wurzeln in der klassischen Musik haben: von der analogen Ensemblewerdung von Brandt Brauer Frick über die Piano-Jazz-House-Kollage von Bugge Wesseltoft und Henrik Schwarz bis hin zur virtuosen Lautmalerei von Hauschka.
Henrik Schwarz and Bugge Wesseltoft – “Duo” (Live @ London 2010)
Nicht nur aufgrund des vermehrten Einsatzes des Klaviers, das beinahe allen bisher genannten Beteiligten als Schlüssel dient, wurde in den vergangenen zwölf Monaten wieder mehr auf Romantik gesetzt. Daran ist weder die fragile Emotionalität von Blake noch das von Jaar in die Clubs beförderte Erbe Erik Saties allein verantwortlich, sondern der Soul. Keine Vintage-Variante, vielmehr die Verquickung von Beats und Emotionen – eine Mixtur, die ins Morgen blickt, nicht das Gestern nacheifert. Das R’n’B infizierte Debüt von Jamie Woon balzte zwar nicht immer subtil mit der Radio-Kompabilität, dafür wusste die minimalistische Elektronik das Tête-à-tête oft genug zu unterbinden. Selbst genrefremde Gefährten wie The Rapture legten mit ihrem Smash-Hit “How Deep Is Your Love?” Zeugnis von ihrer Art der Retromanie ab. Zwei Kanadier konnten indes noch mehr für die empfindsame Soul-Infusion sorgen. Das Duo Art Department erinnerte mit seiner Kreuzung aus House und Soul an die Ur-Ingredienzien Melancholie und Sehnsucht.
Art Department – “I C U”
Apropos Soul, das Berliner Label Suol konnte in diesem Jahr seinen Status als aufstrebende Plattform untermauern. Katalognummer Zwei und Drei wurden von Trickski und Till von Sein besetzt, deren Alben eine gehörige Portion Coolness auszubreiten wussten. Auf der hiesigen Makroebene war es jedoch DJ Kozes Label Pampa Records, das dem Jahr den Stempel aufdrückte. Begrüßte uns Isolée mit einem ambitioniertem Wurf, sorgten Ada und Robag Wruhme für Hochgefühle im Sommer. Dass Peter Kersten alias Lawrence, der normalerweise auf seinem Label Dial Records veröffentlicht, auch einen Abstecher in die höchst erquickende Pampa machte, spricht für sich.
Lawrence – “Kurama”
Die letzte Erinnerung gilt Conrad Schnitzler, der im August verstarb. Das Gründungsmitglied von Kluster und Tangerine Dream war in den 70er Jahren nicht nur ein Teil der gemeinhin als Krautrock bezeichneten Bewegung experimenteller Avantgardisten, auch eröffnete er mit Freunden den Berliner Untergrund-Club Zodiac und soll – die Legende will es so – Kraftwerk ihren ersten Synthesizer besorgt haben. Ehre, wem Ehre gebührt.
Sebastian Weiß
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