War das zu viel des Guten? Nicht nur die Konzerte, sondern auch das Angebot des Hamburger Reeperbahn Festivals war schweißtreibend. Wenn man sich jedoch vom Hafen bis zur Reeperbahn etwas treiben ließ, blieb man bei den schönsten Live-Momenten einfach hängen – wie beispielsweise bei Clock Opera.
“An den Landungsbrücken raus, dieses Bild verdient Applaus”, so sang es bereits die Hamburger Band Kettcar und sie behalten Recht. Vor allem, wenn man ein paar Schritte weiter nach unten zu den Hafen-Anlegerstationen 1-10 schreitet. Denn spätestens da applaudiert man den dienstältesten Bootsfahrt-Anpreisenden, die einem mit derber nordischer Schnauze ins Ohr hanseateln “Ob hier noch jemand mitfahren will? Nu man to“. Dabei hat man das Gefühl, man würde sich hier ganz klar als Kulturbanause outen, wenn man nicht gleich in irgendeiner Form das Festland verlässt. Dazu steigt der Hafen-, Fisch- und Pommesgeruch in die Nase. Wir sind auf dem Reeperbahn Festival angekommen, allerdings noch nicht auf der Reeperbahn. Hamburg gibt sein legendäres Stadtzentrum – in diesem Fall sein stolzes Stück Rotlichtpflaster – als Festivalgelände frei.
Das Label PIAS lädt zur Bootsfahrt ein, da muss man sich nicht zweimal bitten lassen. Während das Reeperbahn Festival schon seit Mittwochabend im Gange war, konnte man sich als Nachkömmling am Freitag erstmal bei mittlerem bis hohem Wellengang und Industriecharme durch Containerketten am Rande zu Nicolas Sturm, Andy Burrows und Skinny Lister auf das Festival einstimmen. Nachdem der deutsche Singer/Songwriter Nicolas Sturm im Gisbert-zu-Knyphausen-Jargon eröffnet und ein bisschen Melancholie unter die Besucher streut, stellt Andy Burrows sein anstehendes Solo-Album “Company” vor. Der Herr ist ehemaliges Razorlight-Mitglied und hat die Weihnachtszeit 2011 mit Editors-Frontmann Tom Smith und dem gemeinsamen Singer/Songwriter-Pop-Projekt “Smith & Burrows” versüßt. Nachdem Burrows mit seichten Tönen die Wellen, die gegen das Boot schlagen, besänftigt hat, sorgt die fünfköpfige Band Skinny Lister auf den letzten Metern mit Schunkel-Punk-Folk und Hafenkneipen-Flair für das Gefühl, dass Hamburg ohne Hafen nicht funktioniert. Und das Reeperbahn Festival ohne Reeperbahn natürlich auch nicht.
Am Samstagabend kündigt Ray Cokes Andy Burrows im Hamburger Schmidt Theater an:
Sind das Festivalbesucher? Leben die hier? Wollen die was von mir? Wissen alle, dass die Reeperbahn heute jedermanns Meile ist? Machen Wahl-Punks an diesen Tagen das Geschäft ihres Lebens? Das Massenpublikum ist eine Collage aus Touristen, Branchenleuten, stolzen Hamburgern – so viele Bands und Clubs muss eine Stadt nämlich erstmal haben – und Reeperbahn-Alltime-Bewohnern, die sich zwischen Sex-Clubs und Szene-Venues tummeln. Der Spielbudenplatz schmückt mit West- und Eaststage den Mittelpunkt. Wenn es schon kein Festivalgelände mit Mainstage gibt, dann muss man sich halt selbst eine suchen. Angekommen, beziehungsweise bis zur Großen Freiheit 36 vorgedrungen, stehen Fun. auf der Bühne, die amerikanische Pop-Band mit ihrer Radio-Hitsingle “We Are Young”. Das Publikum vor der Bühne ist das aber auch ganz schön. Denn es beschleicht das Gefühl, das man mitten in einem High-School-Musical gelandet ist, in dem Sänger Nate Ruess mit infantiler Indie-Uniform (Hochwasser-Röhre, Mickey-Mouse-T-Shirt, Blazer und Slipper) die Massen zum Dahinschmelzen bringt. Dennoch: das, was sie machen, machen sie gut und das ist Musical-Pop, den auch die Indies gut finden dürfen. Schnell avanciert das Luxusproblem zum Smalltalk-Aufhänger: “Alles voll cool mit den ganzen Clubs, aber irgendwie sind das ja dann doch immer ganz schöne Wege…Bahn, Taxi oder zu Fuß?”
Wenn man sich das “Übel & Gefährlich und Knust”-Konzertspektakel nicht entgehen lassen wollte, dann kam man nicht um das Heiligengeistfeld herum, um ans Ziel zu gelangen. Und das Ziel war das englische Indie-Space-Pop-Trio Animal Kingdom, welches sich als die große Empfehlung nach dem Festival-Freitag in den Kopf gebrannt hat. Für eine dreiviertel Stunde beherrschten sie zwar kein Tier-Königreich, aber das Publikum diente mit seeligen Gesichtern, die sich von Sänger Richard Sauberlich hypnotisieren ließen sowie Tanzeinlagen zur Pop-Hymne “Strange Attractor”.
Animal Kingdom – “Strange Attractor”
Andere Bands kündigen wiederum ihre Tanz-Songs an. Obwohl die Band, um die es geht, in den Fliegenden Bauten beeindruckend bewiesen hat, dass sie von ihren Fans wortlos verstanden wird. “This is a dance-song” kündigt Joakim Sveningsson von der schwedischen Band Friska Viljor den Song “Arpeggio” an. Dem ausflippenden und glücklichen Publikum zufolge hätte man denken können, es haben sich alle sechs Bandmitglieder auf der Bühne befunden. Aber die große Bühne war lediglich mit zwei Barhockern, Bandkollege Daniel Johansson und dem nötigen Akustik-Instrumentarium bestückt. Selten hat ein Folk-Akustikset so viel Energie auf so viele Menschen übertragen können. Und selten war man sich so bewusst darüber, dass Friska Viljor zu den besten Live-Bands ihrer Art gehören. Aus dem Strahlen kamen weder die Hauptakteure noch die Besucher raus.
Die einen lieben es, die anderen sind überfordert – mit dem Gefühlschaos, was einem so ein Festival mit insgesamt 60 Locations, 290 Konzerten und ja, auch den 25.000 Besuchern beschert. Wer nicht entscheidungsfreudig ist, der wird seine Probleme gehabt haben. Nachdem man sich am Samstag im Grünspan von der isländischen Indie-Rock Band Immanu El in den Bann der Gebrüder Strängberg ziehen ließ, die mit weichen Stimmen und sphärischem Gitarrenspiel vor der Kulisse einer projizierten Meeres-Szenerie in eine wohlige Welt entführten, konnte man sich nebenan vom Yeasayer-Ersatzact überzeugen lassen. Eine junge Hamburger Indie-Band mit dem Namen Waves Of Joy zeigte sich unsicher. Als würden sie denken, dass das Größenverhältnis nicht ganz stimme. Nachdem sie sich jedoch bei enttäuschten Yeasayer-Fans entschuldigten, hallte ein “Ihr seid auch gut!” durch die Große Freiheit 36. Und tatsächlich – die charmante Unsicherheit der jungen Band wich einem zustimmendem Publikum, weil Waves Of Joy erfrischenden Indie-Pop präsentierten.
Aber genug mit Indie! DENA brachte im Café Keese die Masse zum Schwitzen. Zwei Rotzgören auf dem Weg nach oben? Und das auch noch mit der Idee von M.I.A.? Aber funktionierte trotzdem gut. Mit HipHop-Beats und Dance-Mucke hatte vor allem die bulgarische Sängerin Helena Grierson das Publikum fest im Griff. Und man kann sich gar nicht so recht entscheiden, ob dieses Eighties-Girl mit Ostblock-Akzent und ausgewaschener Jeans-Weste, hochgezurrtem Pferdeschwanz zu schlacksigen Ghettobewegungen und ihre mit Riesen-Creolen bestückten Kollegin ANA an den Synthies jetzt cool sind oder nicht. Eines steht aber fest: man wird noch vieles von ihnen hören, sowohl Positives als auch Negatives. Den übersteuerten Bässen und den DENAs-Bounce-Songs konnte man sich jedenfalls nur schwer verwehren.
DENA – “Cash, Diamond Rings, Swimming Pools”
Danach fühlt es sich jedoch wie Seelenbalsam an, wenn man dem 18-Jährigen amerikanischen Singer/Songwriter Nigel Wright im Impereal Theater lauscht. Der versteckte Blick unter seinem dicken braunen Haar, der sich manchmal etwas verstört in das konzentrierte und sichtlich berührte Publikum richtet, macht sofort deutlich, dass Künstler und Publikum so ein Ding am laufen haben. Als der Junge mit der Gitarre zu Leonard Cohens “Hallelujah” ansetzt, glänzen die Augen derer, die gerade mal nicht das Gefühl haben, draußen irgendwas zu verpassen.
Verpasst hat man hingegen etwas, wenn man sich nicht zu später Stunde zu Clock Opera ins Café Keese begeben hat. Denn dieser Live-Moment zählt definitiv zu einem der schönsten zweier Festival-Tage. Sänger Guy Connelly und seine drei Bandmitglieder schaffen es in der ersten Sekunde dem Publikum Schweiß auf die Stirn zu treiben. Connelly überlässt nichts dem Zufall, wirkt gleichermaßen konzentriert wie losgelöst, schaut immer wieder etwas erstaunt und ungläubig ins Publikum, weil er und seine Kollegen mit Liebe überschüttet werden. Die Band verbindet wiederum eine Liebe zu ihren eigenen Songs – so sieht es jedenfalls aus, wenn man sie dabei beobachtet, während sie sich immer wieder wortlos über Blicke und breit lächelnde Münder verständigen. So viel gesunde Band-Selbstliebe stößt unumgänglich auf Gegenliebe. Jeder Song entführt in eine Ekstase. Connelly hebt dabei gern priesterlich seine Hände in die Höhe. “Belongings” und “Once And For All” bleiben als Reeperbahn-Hymnen im Gedächtnis. Hört das eigentlich nie auf, dass man diesen Dreampop mitträumt? Bei Clock Opera jedenfalls nicht.
Clock Opera – “Belongings”
Draußen träumt währenddessen eine tanzende Gruppe auf der Ladefläche eines LKW’s von einer besseren GEMA-Welt. Mit der Parole “Gemeinsam gegen GEMAeinheiten” ziehen die Demonstranten an den Clubs vorbei, in denen alle gemeinsam ein bisschen mit dem Überangebot des Festivals kämpfen, also auch mit sich selbst. Kann man nur hoffen, dass nicht allzu viele Cro-Fans enttäuscht nach Hause gehen mussten, weil sie nicht mehr reinkamen. Müsste man eigentlich mal nachforschen, ob es denn die längste Warteschlange des Festivals war oder doch die von The Temper Trap. Das hat mit seinen restlos ausverkauften Tickets jedenfalls mal wieder gezeigt, dass Hamburg mit dem Reeperbahn Festival immer ein bisschen den Dicken raushängen lässt. In Anbetracht der schönen Clubs und dem Angebot: zu recht. Allerdings ist weniger manchmal tatsächlich mehr, nur damit man nicht andauernd das Berliner-Gefühl mit sich herumschleppt, ständig etwas zu verpassen. Am schönsten war und ist es auf Festivals schon immer gewesen, einfach an den Orten zu verweilen, an denen es gerade am schönsten ist. Und von denen gab es in Hamburg dieses Jahr wieder genug.
Katharina Lauck
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