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Vor 15 Jahren starb Rio Reiser. Der Scherben-Sänger war zeitlebens eine Art menschgewordener Janus: ob Stimme der linken Hausbesetzer-Szene, homosexueller Schlagersänger oder Songwriter-König Deutschlands – der Ausnahmekünstler ist für Hymnen verantwortlich, die noch bis ins die Gegenwart wirken. motor.de wirft einen Blick zurück und erzählt die Geschichte seiner Band und dem Erbe des Songschreibers.
Der 6. August 1970 ist in die Musik-Geschichte eingegangen. Woodstock liegt ein Jahr zurück, der Geist der Studenten- und Bürgerrechtbewegungen ist immer noch allgegenwärtig. Da kommen drei junge Herren auf die Idee, den Flower-Power-Spirit auch in die Bundesrepublik zu bringen – ein europäisches Pendant zum Original, mit dem herrlich deutschen Namen Love-and-Peace-Festival. Mit der Ostseeinsel Fehmarn wurde nicht nur eine wundervolle Kulisse, mit Jimi Hendrix sogar ein Gast der Extraklasse gefunden. Während der Gitarrengott an jenem Tag sein letztes Konzert spielte, ehe er kurz danach verstarb, beginnt die Geschichte einer der bedeutendsten Rockbands Deutschlands: Ton Steine Scherben. Nicht nur ihr Auftritt, das gesamte Festival war ein unorganisiertes Chaos. Rio Reiser, R.P.S. Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel sorgten im wortwörtlichen Sinne für Zündstoff. Nachdem die Initiatoren mit der Gage vom Gelände flüchteten, ging das Veranstaltungszentrum zu den Klängen von Scherbens “Macht kaputt, was euch kaputt macht” in Flammen auf.
TV-Bericht über das Love-and-Peace-Festival 1970
Seit jeher stand das Quartett für Radikalität, Agitation, Polit-Rock und Unabhängigkeit. Da kein Major-Label solche Raufbolde unter Vertrag nehmen wollte, gründeten die Scherben 1971 ihr eigenes Label David Volksmund Produktion und verkauften die wenigen Exemplare aus ihrem Tourbus heraus. Ohne das große Geld zu machen, avancierten die Mannen um Rio Reiser zu den Rebellen der Hausbesetzer-Szene. Sowohl ihr Debüt „Warum Geht Es Mir So Dreckig“ als auch das darauf folgende Erfolgsalbum “Keine Macht Für Niemand” brachte die Fähigkeit der Krawallcombo auf den Punkt: ob Polizei-Wahn, Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr oder das Ausbeuter-Tum der “Kapitalistenschweine” – die Scherben wurden mit ihren hymnenartigen Slogans zum Sprachrohr einer ganzen Generation.
Ton Steine Scherben – “Wir Müssen Hier Raus” (1972)
Ton Steine Scherben – “Rauch-Haus-Song” (1972)
Nachdem einzelne Mitglieder ihre Pionierstellung als Bürde empfanden, verließen die Scherben 1975 West-Berlin und ließen sich auf einem Bauernhof in Nordfriesland nieder. Mit diesem Ausbruch ließen sie auch ihr Polit-Image hinter sich und thematisierten fortan neben politischen Themen auch zwischenmenschliche Gefühle. Statt lediglich auf Rock-Musik zu setzen, ließ die immer wieder neu zusammengewürfelte Band auch Jazz-, Klassik- und Folk-Einflüsse zu. Songs wie “Menschenjäger” oder “Der Kampf Geht Weiter” hießen nun “Halt Dich An Meiner Liebe Fest” oder “Mama War So”. Auch wenn die Band hohe Schulden hatte, war sie bereits vor ihrer Auflösung 1985 Legende.
Der Nukleus ihrer Faszination waren ohne Wenn und Aber die Texte. Der 1950 in Berlin als Ralph Christian Möbius geborene Sohn eines Ingenieurs, gab sich aufgrund einer Filmrolle, angelehnt an die Romanfigur Anton Reiser, den Künstlernamen Rio Reiser. Früh erlernte er Gitarre-, Cello- und Klavierspielen, doch kämpfe er sein Leben lang mit den häufigen Umzügen seiner Eltern. Heimat war ein Begriff, den Reiser lediglich aus dem Wörterbuch kannte. Kompensation war die Folge. So sind auch seine mitunter schizophrenen Karrieren zu erklären: Mit den Scherben suchte er sein Heil in dem Gemeinschaftsgefühl, dem Engagement. Die politische Auseinandersetzung niemals nur als Beiwerk verstanden, verband Rio seinen Protest mit der Suche nach Identität. Nach dem Ende der Band nutze er die kreative Kraft seiner Worte für massenwirksame, kompatible Musik, die ihm die Anerkennung brachte, die er sich seit den Kindertagen wünschte. Mit den Singles “Alles Lüge”, “Junimond” oder “König von Deutschland” knüpfe er Sarkasmus und Entdeckungswillen an charakterliche Karthasis.
Rio Reiser – “Für Immer und Dich” (Live 1988)
In seinen Songs, und vor allen Dingen bei den Live-Auftritten, offenbarte Reiser sein Inneres, ließ die Kraft seiner melancholischen Sprache mit ungeküstelten Pathos verschmelzen. Die Verausgabung war Programm, Konventionen wurden über Bord geworden und auch sonst gilt Reiser als Ikone: er machte Rockmusik mit deutschen Texten überhaupt salonfähig. Häufiges Touren, eine Tatort-Hauptrolle, Grünen- und PDS-Unterstützung forderten jedoch ihren Tribut: seine Gesundheit schwand. Nur wenige Tage vor seinem Tod sprach er mit Langzeitfreund und –Gitarrist R.P.S. Lanrue über die Pläne eines neuen Albums.
Rio Reiser – “König von Deutschland” (Live 1988)
Rio Reisers Leben war bunt, schrill, mitunter laut und widersprüchlich, doch vor allen Dingen inspirierend. Die Liste jener, die seine Lieder neu interpretierten, ist endlos. Bis in die Gegenwart wirken seine Songs. Am 20. August 1996 verstarb er im Alter von 46 Jahren an Kreislaufversagen aufgrund innerer Blutungen. Sein Bruder Gert will nun in Kreuzberg ein Museum als Erinnerung an den Ausnahmekünstler ins Leben rufen. Sein Grab wurde erst dieses Jahr nach Berlin umgebettet. Es hat die Form eines Herzens, hinter ihm türmt eine Krone. Der König ist tot, lang lebe der König!
Sebastian Weiß
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