Eins der Markenzeichen einer großartigen Band ist die offenkundige Leichtigkeit, mit der sie sich ständig verändert, weiterentwickelt, neu definiert, niemals wiederholt oder im bescheidenen Mittelmaß versinkt.
Nach dem Überraschungserfolg ihres Albumdebüts, dem uneingeschränkt sensationellen Melody A.M., hätten Röyksopp sich bequem auf ihren Lorbeeren ausruhen können, zufrieden mit dem Heiligenschein, der ihre Häupter seither umstrahlt, um den Markt mit Melody A.M. Pt. II zu beglücken.
Man denke nur an die Reichtümer, die sich seit der Veröffentlichung im Oktober 2001 über die Band ergossen haben: 1.000.000 verkaufte Exemplare weltweit, 500.000 davon allein in England; Touren mit Basement Jaxx und Moby, ganz zu schweigen von eigenen Headliner-Touren, gekrönt von zwei unvergesslichen Shows im Londoner Somerset House sowie einem Auftritt in Glastonbury; eine Brit-Nominierung als Beste internationale Gruppe; ein MTV Europe Award in der Kategorie Bestes Video, und Remix-Aufträge von den unterschiedlichsten renommierten Künstlern, darunter The Streets, Coldplay und Felix Da Housecat.
Glücklicherweise zählen Torbjørn Brundtland und Svein Berge selbst zu der oben angeführten Kategorie renommierter Künstler.
Deshalb ist The Understanding, das angeblich “schwierige zweite Album” der Band, so außergewöhnlich. Wie sein Vorgänger entzieht es sich jeglichem Schubladendenken und pendelt mittels ausgelassener Electro-Eskapaden zwischen zarten, großformatigen Klangbildern und eindringlichem Four-to-the-Floor. The Understanding klingt entschieden anders als ihr erstes Werk, ist aber nicht minder sensationell. Sozusagen ähnlich, nur besser.
Und während sie ihre Neugier mit Melody A.M. aus dem Aufnahmestudio vor lebendiges Publikum führte, hat ihre offensichtliche Wanderlust dieses Mal den Mantel des elektronischen Sänger/Songwriters des 21. Jahrhunderts übergeworfen.
“Wir mussten etwas anderes machen”, erklärt Svein. “Etwas, das neu für uns ist; was die textliche Herangehensweise erklärt.” “Dazu brauchten wir zu allererst eine neue Frisur, mehr Haar”, verkündet Torbjørn und bestätigt damit, dass Röyksopp ihr eigenwilliger Humor nicht abhanden gekommen ist. “Zwischendurch haben wir uns sogar richtige Bärte gezüchtet. Ein paar Haare haben wir stehen lassen”, fügt Svein hinzu. “Weißt du, das ist Teil des Prozesses, den man durchläuft: Je länger Haare und Bart, desto mehr Beaujolais verträgt man. Das ist Stufe drei der sieben Songwriter-Stufen.”
Stufe sieben, das Erlangen der Songwriter-Erleuchtung, wird nicht näher definiert. Ermutigt durch ihre Ausflüge auf die Bühne – “On the road, das macht sich gut im Lebenslauf”, ist Svein überzeugt, “das bricht das Eis, beweist, dass du Lebenserfahrung hast.” -, bedeutete das on the road! gewonnene Selbstvertrauen, dass der einzige Druck, dem Röyksopp während der Aufnahmen von The Understanding ausgesetzt waren, vom Faktotum im Studio kam – hä?
“Ständig wollte er etwas reparieren”, erinnert sich Torbjørn. “Zum Beispiel behauptete er, die Basstrommel wäre kaputt und könnte nicht benutzt werden. Er war der einzige, der Druck ausübte. Aber ganz im Ernst, woher sollte der Druck denn kommen? Von der Platten kaufenden Öffentlichkeit? Wohl kaum. Den Kritikern? Vor denen haben wir keine Angst. Schon mit Melody A.M. haben wir konsequent unser eigenes Ding durchgezogen.”
Und diese Einstellung hat sich bewährt. Der erste Song Triumphant ist ganz eindeutig ihr “eigenes Ding”: das spannungsgeladene, an Brian Eno erinnernde Stück mit seinen emotionalen Atmosphären bereitet den Weg für die darauf folgenden komplexen Schichten. Die Leadsingle Only This Moment, gesungen von Neuzugang Kate Havnevik, besteht aus munterem, robotischem Soul, eingetaucht in ein sonniges Schimmern, während die gedehnten Grooves von 49 Percent von einer Prince-ähnlichen Begeisterung für psychedelischen Paisley Park-Electro künden.
Sombre Detune offenbart Röyksopps dunklere Seite, während Follow My Ruin elektronische Bodymusic mit Poptendenzen ist; was eigentlich schrecklich klingen müsste. Tut es aber nicht. Eher grandios. What Else Is There, gesungen von The Knife-Multitalent Karin Dreijer, erinnert an ‚Kate Bush trifft Bjork’, und Alpha Male geriet zur schlagfertigen Antwort auf Röyksopp’s Night Out, einem langsamen, epischen Streifzug, der an John Carpenter im hochprozentigen Oktanrausch denken lässt.
Die schimmernde Narkolepsie von Dead to The World und Tristesse Globale rundet die ganze Sache wunderschön ab, aber wie ist dies alles zu verstehen angesichts eines verspielten Albumtitels wie The Understanding? Torbjørn und Svein verraten jedenfalls nichts. Zumindest jetzt noch nicht.
“Ja, es gibt eine Bedeutung”, bestätigt Svein. “Aber wir wollen Raum für eigene Interpretationen lassen. Vielleicht hat jemand eigene Vorstellungen.”
Torbjørn: “Das ist wie bei einem klassischen Bild, wie bei der Mona Lisa. Wenn man den Leuten sagt, worauf sie achten sollen, haben sie nur noch Augen für diesen einen Aspekt.”
Ein Ausweichmanöver? Durchaus nicht. Denn die wahre Bedeutung des Albums soll in ein paar Monaten bei einem Symposium offenbart werden.
“Wir halten eine Konferenz in Asien ab”, kündigt Torbjørn an.
Nachdem sie also nicht in die Falle getappt sind, Melody A.M. II aufzunehmen – The Understanding klingt deutlich roher und direkter, wie seine Schöpfer betonen -, welches ihrer Werke gefällt ihnen nun besser?
“Das ist so, als ob man seine Kinder vergleichen soll”, kontert Torbjørn. “Auch wenn ich gar keine habe.”
Svein führt die Analogie noch einen Schritt weiter. In Richtung Gosse. “Das ist so, als ob man zwei Hoden vergleichen soll. Keiner der beiden ist besser oder schlechter. Beide sind wichtig für die Anatomie von Röyksopp.”
Röyksopp: The Understanding. Schön, dass sie zurück sind. Anders, aber ähnlich. Ähnlich, aber besser. Weiter so
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