Wir treffen Sinkane im Berliner Büro seines Labels City Slang. Er sieht etwas erschöpft aus, aber wer wäre das nicht, nach mehreren Stunden Interviews, vor allem wenn abends dann noch ein DJ-Set ansteht. Der Trubel ist berechtigt: Sinkane ist das Projekt vom Ahmed Gallab, seines Zeichens gebürtiger Sudanese. Der veröffentlicht dieser Tage sein großartiges neues Album Mean Love.
Fragt man Ahmed nach den wichtigsten Einflüssen, die letztendlich Mean Love geformt haben, erhält man viele, teils unerwartete, Antworten:
"Die Struktur von Popsongs hat mich stark beeinflusst. Auch die Ideen und Themen im Großteil der Popmusik. Auch Humanismus und Existentialismus haben mich stark beeinflusst […]. Die Idee des Universalismus – etwas zu erschaffen, für das jeder einen Bezugspunkt finden kann, etwas, das Menschen wirklich genießen können, weil sie sich selbst darin erkennen können – nicht irgendjemand, sondern wirklich jeder. Jeder Mensch – deine Mutter, die junge Schwester deines Kumpels oder die Tante, mit der du nicht klar kommst … jeder."
Genau hier zeigt sich bereits, was Mean Love so großartig macht, aber auch das größte Problem der Platte, vielleicht sogar von Sinkane selbst ist: Zwar scheut man sich nicht davor, ungewohnte Wege zu gehen, aber die Maxime scheint absolute Annäherung zu sein – in alle Richtungen, zur gleichen Zeit. How We Be, unbestreitbar der Höhepunkt der Platte, erinnert an Bill Withers, klingt nach großem Songwriting, das durch Ahmeds hohe, aber niemals schwache Stimme perfekt in Szene gesetzt wird. Dann sind da Songs wie Galley Boys: Hier treffen sich sudanesische Percussions, Reggae und Country – ein beim ersten Eindruck fast absurd wirkender Stilmix.
"Meiner Meinung nach gibt es wirklich starke thematische Überschneidungen bei Country, Reggae, afrikanischer Musik, R’n’B, Funk und Soul. […] Viele der Leute, die Country und amerikanischen Folk gemacht haben, mussten um vieles kämpfen. […] Alle diese Menschen wurden unterdrückt. Und ich denke, dass das die Musik, die sie gemacht haben, stark beeinflusst hat. Denn all diese Musik ist sehr ernst, sehr ehrlich und sehr echt. Nachdem ich das verstanden hatte, bin ich noch weiter gegangen, und habe gemerkt, dass diese Gefühle die gleichen sind, die ich auch mit Hardcore verbinde, denn Hardcore entsteht aus den gleichen Umständen: Ein paar Kids fühlen sich so, als müssten sie gegen die Gesellschaft kämpfen, als würde niemand sie verstehen, und genau das wird durch die Musik heraus gelassen. Da ich verstand, dass all diese Gefühle, all diese Musik ähnlich ist, bin ich zur Feststellung gekommen, dass das eigentlich alles Soul-Musik ist. All das kommt direkt aus der Seele und aus dem Herzen. Was ich dann machen wollte war, all diese miteinander verbundenen Stilrichtungen in eine kleine Box zu geben. Wenn man das richtig schüttelt, dann sollte etwas absolut Echtes, Ehrliches und Ernstes dabei heraus kommen, womit man sich auf der ganzen Welt über viele verschiedenen Ebenen identifizieren kann. Das hat mir geholfen, auf den Universalismus zu kommen […]: Leute, die sich vorher niemals eine Sinkane-Platte angehört hätten werden das jetzt tun, weil sie sich vielleicht mit diesem Country-Western-Moment identifizieren können."
Vereinfacht gesagt bedeutet Universalismus in der Philosophie, dass einzelnen Strömungen oder Dingen größere, universelle übergeordnet sind. Überträgt man das im Sinne Sinkanes auf die Musik, dann wird klar, dass hier mal eben eine universelle Musiksprache gesucht wird. Dass das im Rahmen eines Albums kaum gelingen kann, sollte klar sein. Im Ergebnis wirken einige Songs des Albums etwas deplatziert: Der Stilmix funktioniert im Falle von Galley Boys durchaus, beim Titeltrack Mean Love ("You know I love you but you're mean to me") zeigen sich aber eindeutige Schwächen. Man könnte vermuten, dass Universalismus für Sinkane nicht nur bedeutet, dass sich jeder mit seiner Musik identifizieren kann, sondern auch, dass er selbst sich seltener auf etwas festlegen muss.
Nichtsdestotrotz: Mean Love ist immernoch eine äußerst starke Platte, nichtzuletzt durch die ständig sichtbare afrikanische Handschrift, die sich in den großartigen, meistens enorm entspannten Beats ausdrückt. Hier bemerkt man, wo Ahmeds Leidenschaft liegt: Als Drummer einer Hardcore Band hat er sich als Kind die Seele aus dem Leib getrommelt. Er war das "angry kid" – die Aggressionen mussten raus. Heute ist Ahmed gelassener, nippt entspannt an seinem Kaffee, als hätte er nie etwas anderes getan. Dabei hat er eine bewegte Vergangenheit.
Als sein Vater, ein Politiker und Journalist, sein Heimatland Sudan nach einem Militär-Coup verlassen musste, zog die ganz Familie zunächst nach Utah um. Schon früh scheint sich Ahmed dann in die Musik geflüchtet zu haben – und man merkt, wie sehr ihm diese am Herzen liegt. Heute muss er sich oft Fragen über diese leider auch sehr marketingtaugliche Phase seines Lebens gefallen lassen. Dabei steht Sinkane auf keinen Fall für einen Vertriebenen, sondern eher für einen Menschen, der das, was er tut, gerne tut. Zum Beispiel als er Caribou bei deren Auftritten an den Drums unterstützte:
"Mit Caribou zu spielen war einer der besten Drummer-Momente meines Lebens. Einmal haben wir eine Show in Leeds gespielt, das war die letzte die ich mit ihnen gespielt habe: Ich habe mich gefühlt, als hätten mein Körper und mein Geist die Zeit transzendiert: Ich habe für meine absolute Lieblingsband Schlagzeug gespielt, in dieser unfassbar merkwürdig heißen Halle, mit 500 Menschen, und ich habe mich einfach frei gefühlt, als hätte ich eines der wichtigsten Ziele meines Lebens erreicht. Danach war es an der Zeit, sich weiter zu entwickeln, damit ich mir ein noch größeres Ziel aussuchen konnte."
Das noch größere Ziel war dann Mean Love, die Platte mit dem universalen Anspruch. Davor hat Sinkane bereits zwei Alben veröffentlicht: Auf das selbstbetitelte Debüt von 2009 folgte 2012 Mars. Die Zeit zwischen seinen Platten hat Ahmed dazu genutzt, um als Tour-Supporter verschiendener Bands Erfahrungen zu sammeln, nicht nur bei Caribou, sondern auch bei Of Montreal: "Mit diesen Bands zu spielen war in etwa so, als würde ich zur Uni gehen. Ich war über vier Jahre mit vier oder fünf verschiedenen Bands auf Tour, und ich wollte von jeder etwas lernen. Ich wollte ihre Erfahrungen aus erster Hand selbst erfahren, konnte ihre Entscheidungen miterleben […]. Als ich dann wieder an Sinkane gearbeitet habe hat mir das sehr geholfen: Ich konnte mich erinnern, was damals passiert ist und damit dann meine eigenen Entscheidungen beeinflussen."
Es scheint so, als sei der Plan aufgegangen. Trotz der ein oder anderen Schrulligkeit macht Mean Love deutlich, dass Sinkane ein eigenständiger Künstler ist, dessen eigene Sprache sich über die Jahre mehr und mehr perfektioniert hat. Nur das mit dem sich festlegen will wirklich noch nicht klappen. Ob er einen Lieblingssong auf Mean Love habe? "Jeder Song ist mein Lieblingssong (lacht)! Ich mag sie alle!"
(Foto: Martine Carlson / Interview: Carsten Brück)
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