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Sofa schlägt Schlamm

Die Festivalsaison boomt wie nie zuvor – am Besten zu erleben ist sie allerdings zunehmend zu Hause. 

Brachten in diesem Jahr (fast) alle großen Festivals auf heimische Bildschirme: ZDF kultur. (Foto: ZDF)

“Aus Wacken live in Ihr Wohnzimmer!” Etwas befremdlich mutete diese Ankündigung dann doch an. Zuvörderst wegen der in Interessentenkreisen vermutlich eher unüblichen Sie-Ansprache, vor allem aber deshalb, weil sie vom sonst eher wenig wilden Norddeutschen Rundfunk stammt, der damit darauf hinwies, dass auf der Webseite des NDR “direkt aus dem norddeutschen Metal-Mekka” per Livestream übertragen werden sollte. Sogar das Special-Interest-Event für mehr oder weniger angejahrte Heavy-Bands – das Wacken Festival – ist also öffentlich-rechtlich hoffähig geworden. Fast alle anderen Großfestivals sowieso. Vor allem seit sich das ZDF mit seinem “Kultur”-Ableger dem Festivalsommer ausführlicher gewidmet hat, als jemals zuvor jemand anderes im deutschen Fernsehen – inklusive MTV. Und wenn man nach 100 Tagen “ZDF Kultur” eine erste Bilanz ziehen mag, dann, dass tatsächlich die umfangreiche Festival-Berichterstattung der spektakulärste Teil davon war. Auch, wenn das Moderatorenteam größtenteils schwer erträglich und die Auswahl der gezeigten Acts durchaus geschmäcklerisch streitbar war.

Der Trend ist unübersehbar: Die Festivalsaison wird live-medial immer weiter ausgeleuchtet. Wer aufmerksam ist und sich ausreichend umschaut, kann inzwischen nahezu jeden Tag Liveübertragungen der großen Festivals per TV oder Webstream mitverfolgen – live oder kurzfristig versetzt per Mediaarchiv. Interessant ist das per se für Ereignisse, die man in Person ohnehin kaum zu sehen bekäme. Sei es – wie zum Beispiel beim weltbekannten amerikanischen Doppel Newport-Folk und -Jazz, die vom auch sonst ultraregen National Public Radio übertragen wurden – wegen der geografischen Lage, wegen der Exklusivität des begrenzten Publikums wie beim hochkarätigst besetzten Londoner iTunes-Festival oder auch einfach nur, weil man sich halt nicht mal eben einen Sommer freinehmen kann und über die finanziellen Reserven verfügt, um auch nur die wichtigsten Events systematisch abzuklappern. Aber es gibt auch immer mehr Grund, sich gleich freiwillig zum Festival-Couchpotato zu erklären. Dazu muss man sich bloß ein paar Aspekte der aktuellen Festivalkultur vergegenwärtigen.

Foo Fighters – “Rope” (live @ iTunes Festival 2011)

Open-Air-Festivals waren noch nie etwas für Zartbesaitete. Man nahm die damit reichlich verbundenen Beschwerden in Kauf, weil sie eine sonst unerreichbare Dichte an interessanten Bands aufweisen konnten. Der Drei-Tage-wach!-Partygedanke war da eher notgedrungen herbeiphilosophiertes Rechtfertigungs-Beiwerk. Allerdings gab es vor – sagen wir mal – fünfzehn Jahren oftmals noch keine gnadenlos durchkalkulierte Zeltplatzordnung, sondern eher ein buntes Durcheinander von Zelten und Autos, im Idealfall bis direkt ran an das eigentliche Festivalgelände. Das war schon deshalb möglich, weil das Publikum in der Regel kleiner war und homogener. Man konnte sich bei den allermeisten Festivals sogar mehr oder weniger kurzentschlossen mit ein paar Kisten Bier und Konserven ins Auto setzen und einfach losfahren, um vor Ort noch ein Ticket zu kaufen. Heute bedarf es schon so etwas wie einer strategischen Jahresplanung, um den Festivalbesuch abzusichern. Denn etliche der Großen oder besonders Attraktiven agieren an der Obergrenze ihrer – im besseren Fall, Beispiel Haldern oder Immergut, bewusst niedrig angesetzten – Kapazität und sind schon lange im Vorfeld ausverkauft. (Da reden wir noch nichtmal vom Fusion Festival, bei dem man auch noch höllisch aufpassen muss, wann überhaupt der Vorverkauf beginnt, um nicht gelackmeiert dazustehen.) Mega-Events wie Rock im Park füllen ihren Platz obendrein inzwischen eher mit – so scheint es zumindest – Eventtouristen, denn mit Musikinteressierten.

Das wiederum schlägt auf die Headliner-Politik der Großen voll durch, die nur noch im Ausnahmefall Spannendes zu bieten hat. Dafür werden die Top-Acts immer früher verpflichtet und angekündigt. Aktueller Trend: Noch während der Abschluss-Pressekonferenz wird der zu diesem Zeitpunkt natürlich exklusive Headliner für das nächste Jahr präsentiert. So sollen möglichst frühzeitig Ticketkäufe generiert werden. Anklang findet das selbstredend vor allem bei den beinharten Fans der betreffenden Band. Eingeschworene Fans einer Band sind aber Gift für die allgemeine Stimmung. Die haben nämlich die Unart, die ersten Reihen vor der Bühne möglichst frühzeitig zu besetzen, ganz egal, ob sie mit den vorher spielenden Bands irgendetwas anfangen können – oder wollen. Verschärft wird diese Einschränkung des Publikumstransfers zwischen Bühnennähe und Background durch die inzwischen allgegenwärtigen Wellenbrecher. Die sorgen dafür, dass nur eine bestimmte Anzahl von Publikum in die Zone vor der Bühne gelangt. Sicherheitstechnisch ein Muss bei Veranstaltungen bestimmter Größenordnung, ist es natürlich trotzdem extrem störend, wenn man sich per se eben nicht mehr einfach nach Lust und Laune nach vorn durcharbeiten kann.

Versperren den Weg zum Headliner: Wellenbrecher.

Dass die jeweils aufgefahrene Festivallogistik insgesamt immer wieder an ihre Grenzen stößt, ist jedes Jahr auch bei vermeintlich erfahrenen Veranstaltern zu konstatieren. Riesenschlangen beim Bändchenanlegen, unzumutbar lange Fußwege und mangelhafte Sanitärverhältnisse kennt jeder Festivalbesucher. Kommt dann noch schlechtes Wetter hinzu, wird der Spaß nachhaltig getrübt. Die meisten Menschen finden es nämlich keineswegs toll, sich tagelang durch mindestens knöcheltiefen Matsch zu wühlen, auch wenn Schlammschlittern immer wieder gern geschossene Bilder abgibt. Gerade in diesem Jahr gab es kaum ein relevantes Festival, das diesem Schicksal entgangen ist. Einige warfen gar schon im Vorfeld das Handtuch – oder hätten es besser tun sollen, wie das eben nahezu komplett abgesoffene Hamburger Dockville-Festival, das nur das bisher letzte in einer ganzen Reihe von Man-möchte-nicht-dabeigewesen-sein-Festivals war.

Drei Tage Starkregen und Windstärke acht – das Trümmerfeld des abgesagten Searock Festivals

Scheiß auf Open-Air-Romantik! Auf der heimischen Couch mag man sich vielleicht nicht besonders wild und partytauglich fühlen. Aber man ist zweifelsfrei näher dran am eigentlich Wichtigen, als es vor Ort jemals möglich wäre: dem Musiker auf der Bühne. Zu eigenen Bequemlichkeits-Konditionen und mit eigener Programmhoheit. Gebraucht wird sowieso nicht mehr Publikum bei Festivals. Nur die Programm-Zusammenstellung ist daheim derzeit noch arg mühselig. Wo bleibt also das Fulltime-Festival-TV? Ob als Geschäftsmodell oder Kulturauftrag: Es wäre ein paar Abokosten oder Gebühren wert. Für Wacken sowieso – und alles andere auch.

Augsburg

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