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Categories: Festivalbericht

Sommer, Sonne, Sandsturm auf dem Hurricane Festival 2014 in Scheeßel

Hurricane, du dreckige Naturgewalt! Wir haben jetzt so langsam alle schwarzen Popel aus der Nase herausbekommen und die Zeit gefunden, das Wochenende zu rekapitulieren.

Es war heiß, kalt, nass und trocken, es gab Sommer, Sonne, Sandstürme, schmerzende Füße, ungemütliche Schlafpositionen, die durch Klopfer und Beobachter an der Autoscheibe nur faktorisiert wurden – aber das sind alles Luxusprobleme. Denn was es vor allem gab, waren „three days of peace, love and music“, so wie es sich schon das Woodstock als Mutter aller Festivals auf die Fahnen geschrieben hatte. Seit `69 hat sich einiges geändert: eine 2000 Mann starke Personalmannschaft kümmert sich samt Security, Gastro etc. darum, dass nicht wie damals Menschen in Folie eingerollt von Traktoren überfahren werden. Dass die 70.000 Besucher durchaus auf derart irrsinnige Gedanken kommen können, wird bald samt Videoblog auf motor.deTV bewiesen.

In der Musikbranche beherrscht ja momentan eine große gegenseitige Anerkennung und Zustimmung das Feld, Schmusekurs der Musikrichtungen und Fans ist angesagt. Crossover wird plötzlich nicht mehr verachtet, sondern anstrebsames Optimum. Punker und Breaker brechen sich nicht mehr gegenseitig die Knochen, und sogar Frei.Wild und KMPFSPRT-Fans sind – zur Bandbestürzung – immer häufiger dieselben. Mit den Headlindern Arcade Fire (indie), Volbeat (vollbärtige), Macklemore (geile Macker), und Seeed (ah, da fällt mir nichts zu ein), reiht sich auch das Hurricane in diese pazifistische Umarmung gegenüber allen Musikfreunden ein. Dass das für Musiknazis nicht immer, aber doch häufig Vorteile bringt, stellte sich zumindest für mich an diesem Wochenende noch als glückliche Fügung heraus.

Freitag.

Das Line-Up für den ersten Tag treibt mir bereits Reminiszenz-Tränen in die Augen. Bad Religion, Thees Uhlmann, The Subways, The Kooks, Angus & Julia Stone,  Bombay Bicycle Club und die neueste Errungenschaft im Vergötterungs-Herzkasten, Arcade Fire (jaja, ich schäme mich ja auch!), haben in genau dieser chronologischen Reihenfolge meine Liebe zur Musik geschürt, meine Laune aufgefangen und immer sehr viel besser sagen können, was mir nicht möglich, aber dennoch in mir drin war. Mein Fröhlichkeits-Highlight waren Bombay Bicycle Club, wann immer sie da sind, scheint es, als wäre ein alter Freund zurück, ein neues Harry Potter-Buch wieder auf dem Markt – oder endlich wieder Rhabarber-Saison. Zwei,  drei Takte Bollywood-Loop und die Leute grinsen den Rest des Tages. Seltsam war in der Tat der Kreuzgang zu Arcade Fire, während Caspers gleichzeitiges Feuerwerk noch tobte. Neben mir der Satz „Was ist denn das für ein Scheiße, alles leer?!“ fasste die Stimmung der Musiknerds wohl ganz gut zusammen. Dennoch war die Show der Kanadier eine bombastische Freakshow: Jeder konnte alles, tat alles, gab alles. Und ich bereute, dass die gesellschaftlichen Konventionen mich irgendwann dazu brachten, jegliche Eigenarten nicht zu umarmen, sondern zu unterdrücken. Kacke, sonst wär‘ ich jetzt vielleicht so ein toller Nerd wie Arcade Fire.  

Samstag.

Nach drei Interviews am Freitag ( Bombay Bicycle Club, Angus & Julia Stone, I Heart Sharks) war es Samstag an der Zeit, das Festival aus dem nicht minder interessanteren Blickwinkel zu betrachten: vom Zeltplatz. Malle ist nur einmal im Jahr, wurde hier gesungen und schlicht zelebriert. Selten hab ich mir so sehr ein bis zehn Bier gewünscht. Musikalisches Highlight waren meinerseits die Wombats – hier merkte man, wie jahrelange Tanzfreuden angestaut wurden und die Leute einfach mal wieder springen wollten. Regen konnte der Stimmung gar nichts, hier wurde geknutscht, gesprungen, getobt. Zum Abschluss forderte Sänger Matthew Murphy das Publikum auf, richtig zu eskalieren. „I don’t care what you do – and if that means shitting your pants, that’s fine too“. Soweit ging es hoffentlicht nicht, Whirl Pool-Mosh Pits gab es aber trotzdem und Freude in meinem Herzen.

Kraftklub führten an dem Abend das U20-Publikum in den siebten Himmel, es gab Gekreische satt, Mädchenmassen mit Edding-Henna, Kraftklub all over your face. War aber auch gut! Ein Lobgedicht an die Pyrotechnik und deren Legalität folgte außerdem.

Zum Runterkommen gab‘s anschließend noch ein bisschen Ruhe von Lykke Li und lauter schwarzen Tüchern, die sich wie ihr Haar im Wind verwehten. Das hat ganz schön müde gemacht – deshalb gab es zum Einschlafen aus dem Bett noch Lily Allens Stimme – die sich laut Berichterstattung ganz gut an der Backstage-Getränke-Situation labte.

Sonntag.

Letzter Tag schon wieder, aber: mit lauter Schmackofatzos aus der Musikmediathek. London Grammar kamen leider zehn Minuten zu spät und hörten zehn Minuten früher auf – Hannah Reids Stimme ging es gar nicht gut. Beim ersten Ton habe ich vor Freude trotzdem fast angefangen zu schluchzen, so schön ist dieses Stimm-Timbre!

Weiter ging’s direkt mit Metronomy, die Show-technisch wie die britischen Verwandten Arcade Fires wirkten, ähnlich verschallert manisch grinsend, den Groove gepachtet und ständig die Positionen und Instrumente wechselnd. Der Tag danach siegte so dahin, ständig rennend zwischen Sensations-Tourismus bei Jennifer Rostocks Motorboot-Ambitionen, dem Versuch, zehn Minuten Marcus Wiebusch lauschen zu können, bis man zum Polica-Interview weiter musste. Franz Ferdinand hauten gewohnt auf die Kacke, jahrelange Präsenz auf Festivals und in Ohrwurmzentren bringt Publikumsabgehtechnisch halt einige Vorteile. Die Black Keys kommen danach auch, der Platz vor der Green Stage und Hauptbühne ist bereits so voll, dass ich mich dem Kampf nicht hingebe, auf die gute Seite zu kommen, auf der meine beste Freundin Sonne mir nicht die Zapfen und Stäbchen verglüht. Dazu kam die Kamera-Einstellung auf den rechts und links der Bühne angebrachten Bildschirmen: Statt eins zu eins Übertragung mit wechselnden Kameraeinstellungen durfte ich dem Spektakel hier nur in schwarz-weiß beiwohnen, ein gefühltes Bild pro fünf Sekunden, drei Aufnahmewinkel, dazu zeitverzögert. Das war mir zu doof und ich wandte mich lieber gen Red Stage und den Königen der Authentizität: Tocotronic. Mein Mut sollte belohnt werden, hier traf ich endlich den harten Kern der Festivalbesucher,wie ich ihn mir vorstelle. Mitvierziger, die im Jugendalter auf niedersächsischen Kellerparties der Hamburger Schule frönten und im Rollkragenpulli auf der Fensterbank Camus lasen, dann aus der spießbürgerlichen Tristesse auszogen, um die Großstadt und Welt zu verändern, letztendlich aber zurückkehrten, um Bio-Milch frisch von der SB-Milch-Tankstelle nebenan abzuholen und Urban-Outfitters-Shoppern zu zeigen, dass nur sie das diesjährige Festival-Outfit – Friesennerz und Gummistiefel – mit Stil und Glaubwürdigkeit tragen können. „Kaufen ist illegal!“ wurde mir von der Bühne noch zugerufen, als ich mich auf den Weg zu Hamburgern einer anderen Ära, den Fetten Broten, machte. Fettes Brot sind eine wahnsinnig gute Live-Band. Ich habe sie bestimmt 15 mal live gesehen, und genau so viele Alben von ihnen gehört, deshalb fragte ich mich nach 20 Minuten: habt ihr nicht genug eigene, anständige Songs, um nicht auf Cover von Macklemore und Iggy Azalea zurückgreifen zu müssten, sobald euer Fußball-Song, Emanuela und Bettina abgespeist wurde? Tatsächlich fragte ich mich: Wo sind eure Leude da draußen? Als ich beim gleichnamigen Song die einzige mit Textkenntnis und verstörten Blicken auf meinen Lippen war.

Also wieder altbewährter Richtungswechsel, dieses Mal um dem Meister James Blake beizuwohnen. Hatte ich vorhin schon vom harten Kern gesprochen? Dann war hier der Nukleus der Festivalbesucher, jener Menschen, die tatsächlich weniger für den Schnaps, die Bierbong und das Handbrot da waren und mehr für die musikalische Reise. Dank Fettes Brot und ihrer Schlagerkapelle stand ich mit 300 anderen Menschen vor der Red Stage und James Blake. Überall sonst auf der Welt wohl undenkbar. Der Bass setzt ein und vertreibt eine weitere Hälfte der Tapferen aus dem Bereich vor dem ersten Wellenbrecher. Ein Bass, der durch die Ohren, in die Knochen geht, aus jeder Pore wieder herauskommt. Du musst nicht mehr tanzen, du wirst in die Knie gezwungen, dein Herz hat schon lange keinen eigenen Rhythmus mehr, langsam aber stetig steigert sich dein Körper mit dem Stroboskop-Licht und diesem immerwährenden Brummen im Kopf in eine Trance herein, die wohl den Pilze-Ambitionen einiger James Blake-Hörer in nichts nachstehen sollte.

Zweimal setzt er zu „Limit To Your Love“ am E-Piano an – zweimal unterbricht er sich selbst mit dem Kommentar „this is bullshit“ und dem Verweis auf die Lautstärke der Blue Stage (jep, Fettes Brot) wieder. Aber James, wir nehmen dir das nicht übel. Wir hatten hier drei Tage voll Liebe, Frieden und Musik. Auf dem Weg zum Auto höre ich Seeeds Ansage von der Hauptbühne: „Wir sind hier ja die rollende Disko – also noch ein Cover“. Nein danke, Seeed, ich bleibe ein für alle Mal bei Leuten, die hier ihre eigene Musik spielen.  

(Fotos: motor.de / Text: Vera Jakubeit)

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