Stille Nacht, heilige Nacht? Zumindest Ersteres könnte klappen – die Stille macht sich auf in die englischen Charts.
Schweigt sehr eindrucksvoll in die Kamera: Thom Yorke.
Man bekommt in der Tat genau das, was draufsteht: „2 Minute Silence“, also Stille. Genau genommen sind es zwei Minuten und acht Sekunden, sauber digitalisiert mit der üblichen Datenrate, die man erwarten kann, wenn man sich im Onlineshop des Vertrauens gegen Bezahlung einen Track herunterlädt. Es ist eigentlich eine bestechende Idee, die The Royal British Legion – die größte britische Charity-Organisation für Kriegsveteranen – jetzt kurzerhand umsetzte. Zum Remembrance Day, dem britischen Volkstrauertag, sollte die Zwei-Minuten-Andacht nicht nur Einiges an zusätzlichen Spendeneinnahmen bringen – immerhin ein englisches Pfund kostet der Track auf der eigens eingerichteten Homepage. Die traditionell abgehaltenen Schweigeminuten könnten – so die Spekulation – einen neuen Aufmerksamkeitsschub für die Veteranenhilfe mit sich bringen, gar mit einem Charterfolg dafür sorgen, die Stille auch ins britische Hit-Radio zu bringen.
Konsequenterweise wurde zum Titel auch ein Videoclip produziert. Der wiederum ist schon deshalb enorm aufmerksamkeitsheischend, weil sich dort neben Kriegsveteranen und Premier David Cameron auch etliche Ikonen aus Sport und Musik einspannen ließen. Sehr eindrucksvoll in die Kamera schweigen also beispielsweise Iron Maiden-Frontmann Bruce Dickinson, Hipster-Produzent Mark Ronson, Bryan Ferry und Thom Yorke – der ikonische Status des Radiohead-Masterminds ist im Popkultur-Mutterland gar nicht zu überschätzen. (Dass sich ein derartiges Engagement für soldatisches Veteranentum aus deutscher Sicht – vorsichtig ausgedrückt – problematisch darstellt, verweist natürlich auf einen grundlegenden Unterschied im Verhältnis zur Geschichte der eigenen Armee und gibt zumindest Anlass auch mal darüber nachzudenken.)
Ein Pfund für zwei Minuten Schweigen in 256 kBit/s.
Zur vorab verhofften Top-Position hat es schließlich nicht gereicht, auf einem zwar respektablen aber nicht spektakulären Platz 20 landete „2 Minute Silence“ letztendlich in den britischen Single-Charts. Der ganz große Coup fiel also aus und auch im Radio-Tagesgeschäft dürfte die Stille kaum eine nennenswerte Rolle gespielt haben. Das nächste Projekt steht indes schon in den Startlöchern. Ziel ist die schlagzeilenträchtige englische „Weihnachts-Nummer-eins“. Dass es machbar ist, die quasi im Handstreich zu kapern, bewies 2009 eine Facebook-Initiative. Damals gelang es, die eigentlich fest abonnierte „X Factor“-Siegersingle zu schlagen, eine exakt konzertierte Kaufaktion hievte den Rage Against The Machine-Klassiker „Killing In The Name“ an die Spitzenposition. Etwas mehr als eine Spaßaktion war das, wer wollte, konnte das als Basisprotest gegen den Terror der Mainstream-Dudelei interpretieren, der sich in den regelmäßigen Ausflüssen der Casting-Show-Kultur besonders penetrant manifestiert.
Zwei Minuten Schweigen im Schnelldurchlauf.
Ob sich dieser Coup wiederholen lässt, ist allerdings zweifelhaft, zu gering scheint die Chance, dass sich relevante Käuferzahlen noch einmal auf einen Titel einigen können. Versuchen kann man es trotzdem und die beste Idee dafür liefert in diesem Jahr die Initiative Cage Against The Machine. Die möchte John Cages „4’33’’“ als Nummer eins sehen. 1952 wurde das wohl bekannteste Werk des wohl bekanntesten Avantgarde-Komponisten uraufgeführt. Das Publikum war naturgemäß etwas irritiert, als der Pianist David Tudor Anfang und Ende der Sätze des Stücks durch Zu- und Aufklappen seines Tastaturdeckels markierte und ansonsten nichts tat. In drei Sätzen gegliedertes „Tacet“, also Schweigen, gibt die Komposition vor. Vier Minuten, 33 Sekunden lang, klar eigentlich, ermittelt wurde diese Länge allerdings durch Würfeln. Im Verständnis von Cage bedeutete das keineswegs Stille, sondern eine Art Nachsinnen über die Unmöglichkeit absoluter Stille und das Hineinhören in die Geräuschwelt, die Mensch und Umwelt unwillkürlich produzieren.
Ruhe bitte! Aufführung von “4’33’’” mit großem Orchester.
Die Vorstellung, ausgerechnet den trockenen John Cage-Klassiker an der weltweit meistbeachteten Chartspitze des Jahres zu sehen, ist selbstredend äußerst charmant. Über 50.000 können sich zumindest bei Facebook bisher dafür begeistern. Allerdings: Rage Against The Machine konnten auf das Zehnfache bauen. Aber schon, dass die Idee überhaupt wahrgenommen wird, ist der eigentliche Erfolg der Aktion, die nicht nur aus rein künstlerischer Sicht weitaus konsequenter und inhaltlich relevanter anmutet als alle anderen Versuche, das eigentlich überholte Chartsystem zu knacken und damit dessen Mechanismen ad absurdum zu führen. Das dann im Erfolgsfall allerdings im Radio zu hören – eigentlich Usus bei jeder Top-Platzierung –, dürfte die noch größere Herausforderung darstellen. Als die BBC „4’33’’“ 2004 erstmals live im Radio aufführte, mussten die Notfallsysteme für einen Senderausfall außer Kraft gesetzt werden. Auch das ein Beweis dafür, dass die Stille manchmal sehr konkret wirken kann.
Augsburg
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