Durch das Schicksal auf die Probe gestellt, stemmen sich Stereophonics mit „Graffiti On The Train“ gegen die Schatten der Vergangenheit und dem plötzlichen Tod ihres Drummers Stuart Cable. Wie das funktioniert, erklären uns Sänger Kelly Jones und Bassist Richard Jones im motor.de-Interview.
Das erste Juni-Wochenende im Jahre 2010 werden Stereophonics wohl nie vergessen. Es markiert zugleich den Höhepunkt und heftigsten Rückschlag ihrer Karriere: Am Freitagabend schafften sie das Unmögliche und verkauften das City Stadium in Cardiff/Wales aus – mit über 30.000 Zuschauer einer der größten Gig, den sie je absolvierten. Grund genug für die Band, anschließend die Tassen zu heben und es ordentlich krachen zu lassen. Zeigte der Zuspruch schließlich, dass sie zwei Dekaden nach der Gründung immer noch zu den ganz großen in ihrer Heimat gehören und sich vor niemanden verstecken brauchen. Einer übertrieb die Jubelarien jedoch: Drummer Stuart Cable verselbstständige sich an diesem Wochenende, zog ohne seine Jungs weiter und weiter, Pub um Pub und wurde schließlich am 7. Juni 2010 um 5:30 Uhr in seinem Haus in Llwydcoed tot aufgefunden. Seine Frau setzte die restlichen Mitglieder in Kenntnis und lange Zeit war es alles andere als sicher, ob die gemeinsame Band überhaupt weiterbestehen könne.
Schließlich gehörte Cable seit Beginn dazu und hatte weit vor seinem Tod eine Biographie geschrieben, die „Demons and Cocktails – My Life With The Stereophonics“ betitelt, deutlich zeigte, wie sehr er sein Glück von den Geschickten der Combo abhängig machte. Zugleich versicherte er in dem Buch, dass sein Leben ohne den Erfolg wohl niemals so aus dem Ruder geraten wäre und er trotzdem keine Sekunde davon missen möchte. Für die Zurückgelassenen ein Grund mehr, die gemeinsame Sache weiter zu verfolgen und mit „Graffiti On The Train“ schaffen es Stereophonics zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit, einen Longplayer vorzulegen, der nicht nur zu ihren besten gehört, sondern auch tief hinabsteigt in eine Welt, die nichts mit Radiohits und High Society zu tun hat. Mehr noch, denn selten halten die Songs ihre Entstehungsgeschichte hinterm Berg – thematisieren Cable zwar nie 1:1, wirken aber zerbrechlich und gerade das Balladeske steht im Vordergrund der Aufnahmen.
In Berlin trafen wir Sänger Kelly Jones und Bassist Richard Jones zu einem motor.de-Interview über das Schicksal einer Band, die Ungerechtigkeiten des Lebens und wie der Rock’n’Roll das Dasein bereichern und zugleich zerstören kann.
motor.de: Falls wir das Thema lassen sollen, können wir gerne über etwas anderes reden – aber was geht euch heute durch den Kopf, wenn ihr an den Juni 2010 zurückdenkt?
Kelly Jones: (überrascht) Um ehrlich zu sein, darüber mussten wir noch gar nicht sprechen und dachten auch, dass das bei euch in Deutschland kein großes Ding ist. Immerhin hatte Stuart Ewigkeiten versucht einen Verlag für sein Buch zu finden, bekam hier aber nur Absagen.
Richard Jones: Kein Grund ihn auszublenden.
motor.de: Zuallererst muss es eine ziemliche Berg- & Talfahrt gewesen sein: Erst der Gig vor 30.000 Leuten und gut 48 Stunden später der Tod eures Freundes.
Kelly Jones: Das kannst du so sagen und ich gebe dir mein Wort: Niemand hatte sich damals so über den Gig gefreut wie er und nach dem Gig kam Stuart zu mir und hatte Freudentränen in den Augen.
motor.de: Standen Stereophonics anschließend auf der Kippe?
Kelly Jones: Natürlich überlegst du dir, ob das ohne deinen Freund Sinn ergibt und doch fiel mir das Buch von ihm ein. (wird unterbrochen)
Richard Jones: Wofür Stuart einige Kritik von uns erntete, weil es gewisse Interna preisgab und doch schrieb er mit einer Leidenschaft, die einzigartig bleibt.
Kelly Jones: (nickt) Warum also aufhören, wenn ihm so viel an der Band lag? Ohne auf diese Frage eine vernünftige Antwort zu finden, konnte keiner von uns das Schiff verlassen und die fanden wir nicht.
motor.de: Trotzdem entstand „Graffiti On The Train“ erst mal nur als experimentell angelegter Soundtrack für ein Filmprojekt, richtig?
Kelly Jones: Es sollte am Anfang kein reguläres Studio-Album werden. Durch die Zusammenarbeit an den Songs bekamen wir mehr und mehr ein Gefühl, dass das als Platte ebenso funktionieren könnte und ich begann erste Lyrics zu schreiben. Eins kam zum anderen und jetzt kann man das Ergebnis hören.
Richard Jones: Sonst geht man mit dem Wissen ins Studio, dass ein Album aufgenommen wird und dieses Mal war es andersrum: Es sollte plangemäß keines werden und wurde deswegen ein richtig gutes.
motor.de: Dem darf man zustimmen. Die musikalischen Eckpfeiler sind vielfältig, mal zitiert ihr Tom Petty, dann Nick Cave und an manchen Stellen Coldplay. Solch Bandbreite gab es bei euch schon lange nicht mehr.
Kelly Jones: Als wir mit dem letzten Album „Keep Calm And Carry On“ die Top Ten der britischen Albumcharts verfehlten, juckte uns das weniger wegen den Verkaufszahlen, als vielmehr aufgrund der Tatsache, dass wir scheinbar nicht mehr so viele Leute erreichen. „Woran liegt das?“, fragte ich mich. Mit der Erkenntnis: Alles klang erschreckend satt und zufrieden, den Songs fehlte die Dringlichkeit.
Richard Jones: So steif, wie wir auf dem Cover am Tisch sitzen, waren wir auch. (beide lachen)
motor.de: Insofern hat der Verlust von Stuart eine Wirkung auf euch als Musiker gehabt?
Kelly Jones: Wir haben die Tracks nicht aufgenommen um Stuarts Vorstellungen von einem perfekten Stereophonics-Werk gerecht zu werden. Das gab und hätte es für ihn auch nie gegeben, sondern die Stimmung war stets entscheidend: Gehst du abends nach Hause und fühlst, dass etwas Gutes bei der Zusammenarbeit herausgekommen ist oder nicht – daran erkennst du einen guten Song.
Stereophonics – “In A Moment” (Acoustic)
motor.de: Über 40 Demos sollen im Studio gelandet sein – zehn davon auf Platte. Was passiert mit den restlichen Sachen?
Richard Jones: Die werden wir beiseitelegen und nächstes Mal in Betracht ziehen.
Kelly Jones: (lacht) Machen wir nicht, haben wir noch nie gemacht.
motor.de: Wir können also davon ausgehen, dass es weitergeht und „Graffiti On The Train“ nicht der Schwanengesang der Stereophonics ist?
Kelly Jones: Das hängt von unseren Familien ab. Ich habe meiner versprochen nicht mehr so viel zu touren und mehr zu Hause zu sein. Bekam allerdings als Antwort, dass es niemand möchte: Daddy ständig daheim haben, wie er seinem Tourleben hinterher trauert. Also ja, wir machen weiter.
Richard Jones: Ich wüsste gar nicht, was ich sonst machen soll? Du etwa, Kelly? (gegenseitiges Kopfschütteln)
Text + Interview: Marcus Willfroth
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