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New Morning – Changing Weather

Der Alkohol und die Drogen wurden weggesperrt. Reine Vorsichtsmaßnahme. Als sich die Charlatans im vergangenen Jahr an die Aufnahmen ihres neuen Studioalbums „You Cross My Path“ machten, sollte alles anders werden.

Wenn er so vor einem sitzt: schmächtig, schüchtern, die pechschwarzen Haare im Gesicht hängend, denkt man sofort: Wie konnte dieser Tim Burgess für solch negative Schlagzeilen sorgen? Gemeint sind die vielen Ausschweifungen mit denen der Charlatans-Sänger in den Neunzigern so ziemlich jede Klatschspalte des Vereinten Königreichs dominierte. Exzesse, Drogen und durchgezechte Nächte lieferten skandalöses Kanonenfutter. „Manchmal denke ich an die Zeit zurück und frage mich, weswegen wir das alles zugelassen haben? Weswegen kam niemand auf den naiv-jungen Tim Burgess zu und erklärte ihm, dass das so nicht geht; all der Suff und die Undiszipliniertheiten?“, grübelt der Vielgescholtene sichtlich aufgebracht.

Angefangen hatte alles zu Beginn der Neunziger. Die Charlatans veröffentlichten ihre erste Single „The Only One I Know“ und setzen damit eine Lawine ins Rollen: Ihre Heimatstadt Manchester feierte die Combo als Inbegriff des britischen Rave-Sounds und stellte die Macher auf eine Stufe mit den glorreichen Stone Roses. Tim Burgess war zu diesem Zeitpunkt Anfang Zwanzig und wusste nicht, wie ihm geschieht: „Meine Familie hat den typischen Working-Class-Hero-Hintergrund. Soll heißen, kaum erreichte der Lohnscheck unser Haus, ging er auch gleich für die Rechnungen drauf – wir fuhren fast nie in den Urlaub oder so. (überlegt) Dann landest du gleich mit deinem ersten Song einen Hit und alle klopfen dir auf die Schulter. Ganz nach dem Motto: Gut gemacht, jetzt lass es mal richtig krachen!“

In den folgenden Jahren litt die Musik der Charlatans erstaunlich wenig unter Tim Burgess eigenwilligen Lebensstil: Mit dem 97er „Tellin‘ Stories“ und dem zwei Jahre später veröffentlichten „Us And Us Only“ gelang der Band endgültig der Einstieg in die Britpop-Hall of Fame. Nur hinter den Kulissen brodelte es gewaltig: „Wir haben die Charlatans gefühlte zweitausendmal aufgelöst! Immer gab es irgendwelche Streitereien und tiefschürfende Meinungsverschiedenheiten. Das Gute war: Nichts gelang an die Öffentlichkeit.“ Vielleicht hätte es lieber über diverse Kanäle passieren sollen, denn mit der Jahrtausendwende folgte der freie Fall.

„Kurz vor 9/11 hatte unser damaliges Label die fixe Idee uns in Amerika groß raus bringen zu wollen. Dummerweise wurde das Veröffentlichungsdatum unseres Albums ‚Wonderland‘ auf den 10.9.2001 gelegt und für die folgenden Tage eine Tour gebucht. Natürlich hatte kein Mensch nach dem Einsturz des World Trade Centers Interesse an irgendwelcher Musik!“ Die Tour zog die Band zwei Wochen durch und spielte pro Abend vor rund 50 Leuten – in Konzerthallen wo locker das sechs-, siebenfache reinpasst. Anfeindungen gab es obendrein: Der Titel des Albums „Wonderland“ passte nur bedingt in das politische Klima.

In England hielt man den Charlatans wiederum die Stange und sorgte dafür, dass selbst die wenig innovativ anmutenden Nachfolgealben regelmäßig die britischen Verkaufscharts knackten. Mit „You Cross My Path“ versucht die Band trotzdem neue Wege zu gehen: „Uns war es diesmal wichtig Akzente zu setzen und wir wollten uns auf das konzentrierten, was die Charlatans seit jeher beeinflusst: Der düstere Sound von Joy Division, die tanzbaren Beats von New Order und das Gefühl, welches wir in Manchester Anfang der Neunziger verspürten!“ Obwohl es kein Qualitätssiegel mehr ist, haben die Charlatans ihr bestes Album seit zehn Jahren veröffentlicht. Die Songs folgen keiner veralteten Britpop-Formel, sondern suchen ihre Bestimmung zwischen großflächigen Synthesizern, langgezogenen Gitarrenlicks und wohltemperierten Bassspuren.

„Mit der neuen Platte geht es allen ausgezeichnet: Es gab Null Differenzen und ich bin seit einiger Zeit wirklich ‚clean‘ – ohne irgendwelche Rückfälle. Dabei haben mir meine Jungs unglaublich geholfen.“ Auch den Fans ist Tim Burgess in seiner ausgiebigen Reuearbeit sehr dankbar und bugsierte die Platte zum kostenlosen Download ins Internet – ein Schritt der unheimlich viel Druck nahm und nach zwei wilden Dekaden für eine neue Form der Aufmerksamkeit sorgt. Musikalisch, versteht sich!

Marcus Willfroth

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