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Decemberists

Mit den Decemberists haben höchst erfrischende Phantasten der Popmusik ihre Anker bei Capitol geworfen. Seit ihrer ersten EP aus dem Jahr 2001 sind gerade mal sechs Jahre vergangen, doch schon hat die Band aus Portland, Oregon drei prächtige Alben aufgenommen, die sie gleichsam in die erste Liga der Indie-Rock-Zirkel katapultierten. Mit “Castaway And Cutouts” (2002), “Her Majesty” (2003) und zuletzt “Picaresque” (2005), das sich auch in Deutschland auf diversen Jahresbestenlisten fand, überzeugte die Band eine stetig wachsende Fangemeinde, die sie in den USA auf ausverkauften Touren frenetisch feiert. Nicht nur dank außergewöhnlicher Live-Inszenierungen inklusive Theatereinlagen, ausgefallenen Kostümen und phantasievoller Bühnenbilder genießen die Decemberists einen exzellenten Ruf, sondern vor allem dank der Vorliebe ihres Bandleaders und Songwriters Colin Meloy für Songs, die im weitesten Sinne Folk sind, aber mit einem melodischen Reiz und Reichtum aufwarten, der geradezu im direkten Widerspruch zur puristischen Spröde steht, die man dem Folksong gemeinhin unterstellt.

Benannt hat sich die Band nach den Dekabristen (“dekabr” ist russisch für Dezember), adeligen Revolutionären, die im Dezember 1825 den Treueschwur auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigerten, um damit ihren Protest gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur zu bekunden. Als feingeistig und revolutionär darf man denn auch die Musik der Decemberists bezeichnen, eine kongeniale Mischung aus barockem Zierrat und melodischer Leichtigkeit: Progrock ohne Reue, Pop ohne kaugummifarbenes Happy End, Shanties ohne Seegang. Meloys erzählerisches Talent, seine Fähigkeit, Mythen, Historie und menschliche Dramen zu so einfallsreichen wie zeitlosen Geschichten zu verweben und diese unwiderstehlichen Popsongs mit einer klaren, alterslosen Stimme vorzutragen, macht ihn zum “Welt besten Bänkelpopsänger und Moritatenteller” (Spex).

Die pure Lust am Fabulieren (und am melodischen Jubilieren) treibt auch das neue Album der Decemberists zu voller Blüte. “The Crane Wife” basiert auf einem alten japanischen Volksmärchen, das hier in gebotener Kürze wiedergegeben sei: Ein armer Mann findet im Wald einen verwundeten Kranich und pflegt ihn gesund, bis dieser wieder fliegen kann. Ein paar Tage später kommt eine Frau zu ihm. Sie verlieben sich und heiraten. Da sie arm sind, schlägt die Frau vor, Kleider zu weben und auf dem Markt zu verkaufen. Einzige Bedingung: Der Mann darf seine Frau niemals beim Weben beobachten. Das Paar hat durch diese wundersamen Webstunden ein gutes Auskommen, doch Neugierde und Habgier treiben den Mann dazu, seine Frau heimlich beim Weben zu beobachten. Er stellt fest, dass seine Frau der Kranich ist und aus seinen Federn den Stoff für die kostbare Kleidung gewinnt. Der Kranich entdeckt ihn und fliegt davon.

“The Crane Wife” ist jedoch alles andere als ein Konzeptalbum, denn Colin Meloy ist keineswegs daran gelegen, die Geschichte einfach nur wiederzugeben: Aus den unterschiedlichen Motiven der Fabel erwachsen in freier Assoziation seine eigenen phantasievoll poetischen und betont literarischen Geschichten. Manchmal sind es Visionen von düsteren Mördergesellen, die durch einen Song wie “The Shankhill Butchers” streunen, der auf wahren Begebenheiten des Irlandkonflikts in den 1970ern beruht; manchmal sind die Songs sattsam durchtränkt von Liebe und Tod wie im “Summersong”. Die Bürgerkriegsromanze wiederum, die sich in “Yankee Bayonet (I Will Be Home Then)” entspinnt und die Meloy im herzergreifenden Duett mit Laura Veirs singt, wirkt wie eine lichte Miniatur des Filmepos “Cold Mountain”. Bewundernswert ist auch die Diskrepanz zwischen heller Melodik und düsterem Melodram. Bestes Beispiel: “O Valencia!”, dessen aufmunternder Wohlklang wahrlich trügt. Die Geschichte zweier verfeindeter Familien, einer heimlichen Liebe und ihres tragisch blutigen Endes verdichtet Meloy zu einem an Shakespeare orientierten Kurzdrama, während der Song die hehre Schönheit der spanischen Stadt ausstrahlt.

Des Kernstück des Albums ist zweifellos der Eröffnungstrack, die fast 13-minütige Mörderballade “The Island”, unterteilt in die drei Kapitel “Come And See”, “The Landlord’s Daughter” und “You’ll Not Feel The Drowning”. Während dieses Opus magnum die bizarre Chronik einer Entführung bloßlegt, die in Vergewaltigung und Mord mündet, trollen sich die Melodiebögen durch Gefilde, in denen zu wildern nicht nur einigen Mut, sondern vor allem säckeweise musikalische Finesse erfordert: Auf ihrem Weg von der vorwärts drängenden Overtüre “Come And See” bis zum Versinken in der sanften Dunkelheit des finalen “You’ll Not Feel The Drowning” stürmt “The Landlord’s Daughter” mittels sich Fuge für Fuge gen Firmament schraubender Orgelkaskaden geradewegs in den Progrock-Himmel, und für eine kleine aber beeindruckende Ewigkeit scheinen die Decemberists – vermeintlich ihrem Kontext entrückt – Fairport Convention, Yes, Pink Floyd und vor allem Jethro Tull weitaus näher zu stehen als ihrer Indierock-Vergangenheit. Doch selbst in solchen Momenten bleiben Meloy und seine fantastische Band, Gitarrist und Multi-Instrumentalist Chris Funk, Keyboarderin Jenny Conlee, Bassist Nate Query und Schlagzeuger John Moen, allen historischen Verweisen zum Trotz stets Schöpfer wunderschöner Popsongs.

Meloys phantasievolles Storytelling mag die Band mehr als jedes andere Element definieren, sein erfinderisches Songwriting ist die bindende Kraft, denn “The Crane Wife” legt auf die Musik mindestens genau soviel Gewicht wie auf die Lyrics, wodurch die Band sich als so geschlossene wie erstaunlich intuitive Einheit präsentiert. Es sind die Musiker, die jedem Song seinen ganz eigenen Funken Leben einhauchen, ihm einen unverwechselbaren Charakter verleihen, indem sie die Texte nicht einfach nacherzählen sondern ihrerseits aktiv Geschichten vortragen. Unterstützt werden sie erstmals durch die Co-Produzenten Chris Walla (Gitarrist und Produzent der Indiepop-Institution Death Cab For Cutie) und Tucker Martine (Laura Veirs).

Das Ergebnis ist ein Musik und Poesie gewordenes historisches Gemälde, modelliert aus Licht und Schatten, eine dekonstruierte Folk-Fabel, ein intimes Epos, in allererster Linie aber ist es das bisher mit Abstand ambitionierteste Album einer Band, die es noch immer geschafft hat, sich mit jedem neuen Album selbst zu übertreffen.

capitolmusic.de/ Januar 2007

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