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„Wir versuchen, gegen alles Organische vorzugehen. Unser Ansatz ist ganz klar synthetisch. Elektronische Musik ist nach wie vor der Sound der Zukunft.“

Selbst wer konstant in Richtung Zukunft schielt, muss nicht unbedingt darauf erpicht sein, alles im Handumdrehen fertig zu stellen. Alles Jetzige sofort zu beenden, um schon heute in der erträumten Zukunft zu landen. Denn Ankommen ist oftmals problematisch. Gefährlich. Man könnte in ein Loch fallen, die Vision verlieren. Dann doch lieber stetig annähern. Auch mal Langsamkeit walten lassen. Dinge wachsen lassen. Unterwegs sein. In die richtige Richtung. In Richtung Zukunft.

The Knife, das Stockholmer Geschwister-Electro-Duo, bestehend aus Karin (30) und Olof Dreijer (24), sind seit ihrer Gründung im Jahr 1999 gemeinsam in Richtung Zukunft unterwegs. „Wir lernten uns erst richtig kennen, als wir begannen, gemeinsam Musik zu machen. Und das, obwohl wir schon immer am selben Ort, unter einem Dach gelebt hatten.“ Als messerscharfes Duo macht die Bruder-Schwester-Konstellation nicht nur seit inzwischen sieben Jahren Musik, sondern betreibt auch ein eigenes Label (Rabid Records), „um mehr Freiheiten zu haben. Trotzdem ist uns die eigene Musik viel wichtiger als das Label – soviel ist klar.“ Gemeinsam schaut das ungleiche Team – Karin ist inzwischen Mutter geworden, Olof zieht nach wie vor gerne als Club-DJ durch Europas Metropolen und legt Techno oder Grime auf –, wiederholt ein paar Dekaden zurück, um sich für ihren Weg in Richtung Zukunft inspirieren zu lassen.

Nach ihrem Debüt (The Knife) aus dem Jahr 2001, das noch weitestgehend auf elektronische Punk-Pop-Gesten zurückgriff, stand mit Deep Cuts (2004/2005) ihr Durchbruch auch außerhalb der Grenzen Schwedens ins Haus. Mit Hilfe von wohl ausgesuchten Remixen für die Clubs unter anderen von M.A.N.D.Y, Rex The Dog und Mylo waren The Knife zu allererst ein Club Phänomen und konnten in alter Manier über den Club den Weg in die heimischen Stereoanlagen finden. Waren die lautstark artikulierten Themen der vertonten Pop-Schnittmenge weitestgehend aus dem Bereich des Feminismus, ist es auf ihrem nun anstehenden Silent Shout ein eher zurückhaltendes und dunkles Ambiente, das für sie zugleich einen Bruch und eine Weiterentwicklung darstellt. Olof: „Wir haben bewusst langsam gearbeitet, um unsere Vision für diese Platte reifen lassen zu können, denn wir wollten einen deutlichen Bruch zum Vorgänger haben. Wir wollten vorwärts kommen. Deep Cuts war bereits ein Bruch mit unserem ersten Album, und nun sind wir noch einen Schritt weitergegangen. Auf Deep Cuts ging es darum, Hooks zu schreiben. Die Lyrics standen im Vordergrund. Und dieses Mal sollte die Atmosphäre düster und schwarz sein, während das Deep Cuts Album ja sehr bunt war und sich viel mit Pop-Anleihen beschäftigte. Es geht also immer um Fortschritt, um Weiterentwicklung.“

Mit dem von langer Hand geplanten „Bruch“ als Ausgangspunkt, fließen auf Silent Shout wiederholt überraschende, ja, auf den ersten Blick vielleicht sogar schwerlich passende Einflüsse ins eklektische und unbedingt gemeinsam errichtete Sound-Gewächs von The Knife: Minimal-Techno, Ambient-Klänge, frühtechnoides Allerlei… Olof: „Der gleichnamige Song `Silent Shout´ fasst das ganze Album insofern gut zusammen, als dass es sich dabei um zwei Worte handelt, die eigentlich nicht zusammen passen. Ich finde es wichtig, kontrastreiche Dinge zusammenzubringen. Unterschiedliche Elemente, die zumindest auf den ersten Blick nicht füreinander gemacht sind.“

Gleich der besagte Eröffnungstrack, („Silent Shout“), lädt dezent-düster dazu ein, alle Viere gemächlich auf die Tanzfläche zu verlagern. Ihm folgen gender-crossing Vokalschichtungen (allesamt von Karin geschrieben, oftmals von beiden vertont), in Trance ertränkte Tranquilizer-Teppiche, melancholische Märchenwald-Melodien, tiefe Klangräume, die aufgerissen und mit verschleierten Melodiehybriden und minimalistisch-sphärischen Soft-Tronica-Bögen gefüllt bzw. mit wobbeligen Bass-Stürmen untermauert werden. So ist Silent Shout insgesamt ein hochtechnisiertes Reich, das für sich steht. Und unterstreicht, dass den beiden Maschinen-Liebhabern ein weiterer, großer Schritt gelungen ist.
Karin: „Surrealismus, Trance-Einflüsse. Wir sind endlich da, wo wir schon länger sein wollten. Monotone Stimmungen. Beim letzten Mal ging alles in unterschiedlichste Richtungen, und dieses Mal ist es ein viel geschlosseneres Album – trotz der vielen Einflüsse. Alle Elemente sind viel sublimer dieses Mal, sie sind nicht so direkt, nicht so in-your-Face. Ich glaube, es ist ein bisschen sperriger als der Vorgänger geworden. Dafür hält es einen aber auch länger gebannt.“

Nachdem Karin erst kürzlich Jenny Wilson bei deren Debut-Album (Love & Youth) mit Rat und Tat zu Seite gestanden hat – Wilsons Album erschien kürzlich auf dem Label von The Knife, Rabid Records –, und sie nicht minder zu sensationellen Erfolg der Röyksopps Single The Understanding mit einem Vokalpart beigetragen hat , ist es im Fall von Silent Shout nun Jay-Jay Johanson, den sie an einer Stelle als Gastkünstler bemüht haben…

Und selbst wenn die einst omnipräsenten Einflüsse aus den Achtzigern auf Silent Shout nicht mehr allzu offensichtlich sind, sind sich die beiden doch einig, dass es diese Dekade ist, die sie am stärksten geprägt hat: Karin: „Sicherlich hört man noch immer ein wenig die Achtziger durch, aber nicht mehr so deutlich. Die Einflüsse sind dieses Mal viel unterschwelliger eingebracht; was allerdings durchkommt, ist die Tatsache, dass ich früher viel Jean-Michel Jarre gehört habe.“ Olof, der erst zu Beginn der Achtziger geboren wurde und dessen Musik-Initiation mit The Prodigy begann, denkt darüber vergleichbar: „Die Achtziger sind nach wie vor die Dekade, die ich liebe: Es ist dieser Blick in die Zukunft, wie er in den Achtzigern entworfen wurde. Jean-Michel Jarre und Future-Musik aus den Achtzigern sind insofern doch irgendwie richtungsweisend für dieses Album. Ich versuche stets, mit meinen Sounds das darzustellen, was ich mir unter der Zukunft vorstelle. Daher sind die Sounds noch synthetischer geworden als auf dem Vorgänger. Alles klingt noch mechanischer, ist noch weiter entfernt von organischen Sounds. Alles ist synthetisch. Und das ist gut so. Und selbst wenn die Sounds von Silent Shout eher dunkel und düster sind, glaube ich persönlich nicht, dass die Zukunft unbedingt nur schlecht sein muss. Romantische Gefühle wird es immer geben. Vielleicht nennt man das dann Melancholie. Aber die Hoffnung stirbt doch bekanntlich zuletzt.“

Hoffnung können The Knife-Fans nun endlich auch haben, dass sie die zwei Schweden auch einmal auf einer Bühne erleben können. Denn während sie vor anderthalb Jahren noch geschlossen die Meinung vertraten, dass sie niemals einen Gig spielen würden, hat eine Ausnahme im Londoner ICA dafür gesorgt, dass dieses Thema für die Zukunft noch einmal überdacht werden wird: „Das Nicht-Live-Spielen war eigentlich auch nie als feste Regel gedacht –, wir hatten schlichtweg keine guten Ideen, um unsere Musik live umzusetzen. Als wir dann im vergangenen Jahr vom Londoner ICA angefragt wurden, haben wir drei Monate benötigt, um unsere Show zusammen zu bekommen.“ Olof fügt allerdings schon jetzt hinzu, dass er für etwaige Bühnenauftritte „doch irgendeine Art von Maske“ brauche…

Die u.a. von Lynch beeinflusste Karin bringt letztlich auch noch einmal auf den Punkt, warum The Knife ihren vielschichtigen Schrei als einen „Silent Shout“ bezeichnen: „Wir sind nach wie vor genauso politisch wie zuvor. Aber wir haben uns dieses Mal auch dazu entschlossen, viele Dinge unseren Zuhörern und Zuhörerinnen zu überlassen – sie eben nicht anzuschreien mit unserer Message.“

v2music.com

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