Es mag nur ein nettes Poplied sein und Lena eine erfrischend unbekümmerte Gymnasiastin aus Niedersachsen, doch für Deutschland bedeutet der Erfolg in Oslo mehr, als die Summe seiner einzelnen Teile. Vorgestern ging es darum, wie Europa und letztlich auch der Rest der Welt Deutschland sehen will und ob wir uns selbst als Land der Vergangenheit oder der Zukunft begreifen.

Der Eurovision Song Contest war ein idealer Rahmen für diesen Schicksalstest. Noch lange vor der Olympiade 1972 und der WM 1974 war es das erste Groß-Event, mit dem Deutschland in den Schoß der Weltgemeinschaft zurückkehrte. Gleich der zweite Grand Prix d’ Eurovision de la Chanson fand 1957 in Frankfurt am Main statt. Seither hat er für uns Deutsche etwas Kultisches, obwohl die viel erfolgreicheren Nationen wie Großbritannien ihn belächeln oder wie Luxemburg (5 mal gewonnen!) gar nicht mehr teilnehmen.

Deutschland nutzte seither den Sängerwettstreit, um sich so darzustellen, wie man sich selbst sehen wollte. Bis 1998 hieß das nett, klein, brav und doch irgendwie international und integrativ. Es wurden nette, kleine Schlager vorgetragen von erfahren Schnulzensängern oder perfekt assimilierten Mitbürger aus West- und Ost Europa, die wir ins Rennen schickten. Katja Ebstein war da schon fast die Ausnahme, Mary Roos, Lena Valaitis, Wencke Myhre und Rumänen, die sich als Mongolen ausgaben (Dschingiskhan), die Regel. Deutschland ein einig Schrebergarten mit vielen, bunten Gartenzwergen und exotisch gewürzten Grillspießchen auf Holzkohle.

Dieser Hort der Spießigkeit stand natürlich in München, der heimlichen Hauptstadt der alten Bundesrepublik. Dort residiert auch der oberste Laubenpieper namens Ralph Siegel. Kurz vor dem Finale in Oslo prophezeite er im Interview Lena noch den Untergang. Die hübsche Kleine könne einfach nicht wirklich singen und das ganze sei der Wettstreit der Besten, so die Sorge des Altmeisters. Er besaß die Deutungshoheit, schließlich hatte er zum einen die absolute Mehrheit aller Songs geschrieben, mit denen Deutschland teilgenommen hat, zum anderen außer ihm nie einer einen Gewinnersong produziert.

In meiner Erinnerung saß Nicole 1982 im weiten Blümchenkleid mit ihrer Wandergitarre auf der Bühne des englischen Kurorts Harrogate. Mit lässigem Pop hatte das nichts zu tun. Eher mit einer Diskussionsrunde über Entwicklungspolitik in einer christlichen Teestube. In sich gekehrt lächelnd lieferte die 17jährige für Deutschland ein Rührstück in Sachen Friedensliebe ab. Das war Aufarbeitung einer historischen Schuld, aber kein Vergnügen. Europa erkannte das an und belohnte es mit dem ersten Platz.

Lässig kann nur sein, wer locker ist und sich selbst liebt. Wir Deutschen dachten, das dürften wir nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Deshalb wurden wir die Streber Europas. Wir feierten Arbeitssiege bei der Weltmeisterschaft und Sängerinnen mit politisch korrektem Schlager fern jedes Sexappeals. Die Stadionrunde mit Flagge ersparten wir uns genauso, wie Nicole nicht ein zweites Mal mit schwarz-rot-gold auf die Bühne gekommen wäre. Übersehen haben wir dabei, dass uns die Welt genau deshalb misstraute. Wer sich selbst nicht mag, mag nämlich in Wirklichkeit auch niemand anderen.

Solange der Riese Kohl regierte, konnte dies nicht begriffen werden. Deutschland bückte sich nach der Wiedervereinigung umso mehr, versuchte fast ein Jahrzehnt lang der Welt klar zu machen, dass wir mit 16 Millionen weiteren Bundesbürgern eher noch spießiger und braver geworden seien. International hatten wir keine Meinung, sondern waren bestenfalls Vermittler. Musikalisch setzten wir diese Haltung in Form von Grand Prix-Beiträgen fort. Nur nicht auffallen, nur nicht anecken.

Deshalb war der Auftritt von Guildo Horn 1998 auch so auffällig. Deutschland verließ mit dem Machtwechsel sein angestammtes Konzept und präsentierte sich mit einem durchgedrehten Hippie und einem Ulk-Song namens „Guildo hat Euch lieb“. Das moderne Deutschland wollte witzig sein. Das merkte man und deshalb war es so wenig komisch und locker wie zwei Jahre darauf auch Stefan Raab mit „Wadde Hadde Dudde Da“. Dazwischen schickten wir lustige, Polonäse tanzende Türken mit „Kudüse’e Seyahat (Reise nach Jerusalem)“, um uns als Einwanderungsland zu zeigen. Relaunch Germany war in der ersten Runde missglückt.

Die Experimente waren vorbei, als die nächste Regierung an die Macht kam. Mit Garcias Einsatz in der Ukraine hielt 2005 der erste Castingstar als deutscher Repräsentant Einzug. In der Ära Merkel ging es damit zurück zu deutschen Tugenden. Wer das Land vertrat war also, wie sie oder die No Angels vorher, von einer Jury geprüft, gedrillt und gedemütigt worden, als wäre Pop so etwas wie eine Grundausbildung der Bundeswehr auf Privatsendern. Alternativ war der Vertreter der Fleißnation Deutschland selbst ein Casting-Show Schleifer wie Alex Christensen.

Noch nie in der Geschichte des Grand Prix war Deutschland so unerfolgreich. Auf das Land der preußischen Tugenden hatte international keiner mehr Lust. Die BILD beschimpfte zwar noch die „Balkan Mafia“ der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und beklagte Stimmenverschieberein im früheren Ostblock, das Ergebnis blieb trotzdem bodenlos. Man hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt und das, obwohl sie sich schon seit der WM 2006 im eigenen Land abgezeichnet hatten. Egal ob in der Fanmeile oder auf dem Fußballplatz: Deutschland war plötzlich lässig. Es ging nicht mehr nur ums Gewinnen, sondern ums Vergnügen. Man wurde nur Dritter und alle hatten mordsmäßig Spaß.

Lena ist ein Kind der WM 2006 und hat uns das damit einhergehende Gefühl der Lässigkeit zurück gebracht. Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn wir uns gleich getraut hätten, eine schlacksige junge Dame ins Rennen zu schicken, die zuvor noch nie gesungen hat. Natürlich musste auch sie durch ein Casting. Dort traf sie aber nicht auf Quälerei und Zynismus von Produzenten und ehemaligen Mitarbeitern der Musikindustrie wie etwa bei „Deutschland sucht den Superstar“, sondern auf gestandene Musiker wie Westernhagen, Jan Delay und andere, die zuhören und das Besondere finden wollten. Ihnen ging es nicht um Effekthascherei und somit Quote, nicht um stimmliches Handwerk und somit kurzfristige Publikumszustimmung, sondern um das Besondere: die Stimme, die Person die man wieder erkennt, weil sie Charakter hat.

Diesen Charakter bringt man am besten mit Leichtigkeit rüber. Pop muss lässig sein, auch wenn’s mit Arbeit verbunden ist. Zwischenzeitlich hatten wir es schon wieder vergessen, wie Lässigkeit sich anfühlt: Finanz und Euro-Krise, die Kanzlerin mit dem grimmigen Mund, van Gaal und Quälix Magath als strenge Vorzeigetrainer. Es zählte nur noch Sieg, es drohte nur noch Untergang. Das unsympathische Deutschland der Extreme war wieder da. Vorgestern wurde es von einer Abiturientin aus Hannover in seine Schranken gewiesen. Sie trat an, um Spaß zu haben und hat deshalb gewonnen. Das ist das neue Deutschland, genauso wie Nicole die alte, unsichere BRD war. Es ist nur ein Popsong, nur eine erfrischend unbekümmerte Sängerin, aber es kann auch die Wende zum cool Germany sein…