Claudia Roth passt als Politikerin scheinbar nicht mehr in diese Zeit, denn die Frau ist wie Rock’n Roll: hoch emotional, hat ein Anliegen und ist manchmal vom Auftritt her auch durchaus peinlich. Während der überwiegende Rest der Politiker wie kalkulierter, glatter Radiopop der Marke Bohlen daherkommt, holpert die Grüne Roth oftmals wie ein Schlagzeuger, der sich weigert auf „Click“ zu spielen.

(Foto: heute.de)

Diesmal ist sie für viele aus dem Takt, weil sie am falschen Ort zur falschen Zeit, nämlich letzten Samstagabend in der Lobby des Istanbuler Divan Hotels steht. Es liegt mitten in der Kampfzone des Taksim Platz, dort wo Präsident Erdogan gerade diejenigen niederknüppeln lässt, die seit Tagen für Meinungsfreiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Der Hotel-Besitzer hat die Türen für die Demonstranten öffnen lassen. Die Polizei schießt Tränengas in das Haus und somit auch auf Claudia Roth.

heute.de Redakteur Martin Giesler stellt das Bild der Politikerin mit geschwollenen Augen und geröteten Gesicht online. Die Reaktion ist erstmal Häme: Die Facebook Nutzer fragen sich, ob die Dame Sonnenbrand im Gesicht habe, meinen, man brauche halt eine Gasmaske wenn man sich ihr nähern würde oder stellen fest, dass das Bild keine Brutalität der Polizei, sonder die Blödheit einer Politikerin zeigen würde.

Politik ist eben ein Geschäft der Vernunft, jenseits von Leidenschaft und Idee geworden. Im Kabinett befinden sich fast nur noch Rechtsanwälte (Schäuble, de Maizière, Leutheusser-Schnarrenberger, Westerwelle, Friedrich, Pofalla) oder Naturwissenschaftler (Merkel, Rössler und von der Leyen). Egal ob Eurokrise, Energiewende oder Hochwasser – die Antwort dieser Regierung sind immer abstrakte Zahlen (im Zweifel immer Milliarden) aber keine Inhalte, keine Visionen mehr. Niemand erklärt oder lebt vor, warum Europa wichtig ist, zeigt echte Begeisterung für alternative Energien oder regt sich über mögliche Ursachen auf, die sintflutartige Wassermassen entstehen lassen. Das Land wird ordentlich verwaltet, aber nicht mehr geführt. Drei Millionen Menschen in unserer Gesellschaft sind türkischstämmig, die Türkei ist dabei, Spanien als liebstes Urlaubsland den Rang abzulaufen und Döner schlägt in Sachen Fast Food den Hamburger schon lange: Natürlich liegt der Gezi Park auch in Deutschland. Aber von der Bundesregierung ist zu den Vorgängen in der Türkei kein Wort zu hören. Klaro, das verbietet die Vernunft, in Ankara sitzen wichtige Handels- und Militärpartner der Deutschen Volkswirtschaft.

Claudia Roth bei Radio Bremen (ARD Mediathek)


Das sind Argumente die jemanden wie Claudia Roth zum Glück nicht einleuchten. Sie hat Theaterwissenschaften, Geschichte und Germanistik studiert war Dramaturgin und zwischenzeitliche auch Managerin der Band “Ton, Steine, Scherben”. Sie ist nicht diplomatisch ausgewogen, sondern laut, sie ist nicht der Typ der abwägt sondern Zeichen setzt. Und wenn man mit deutschen Soldaten die Demokratie im Hindukusch verteidigen darf, weshalb dann nicht auch als Deutsche Politikerin mit einem Sit-in Mitten in Istanbul? Natürlich ist das unvernünftig, aber das war gute Politik schon öfters: Als Willy Brandt die Situation übermannte und er vor dem Warschauer Ghetto auf die Knie fiel, war das gegen die Etikette und erntete auch viel Kopfschütteln. Selbst der durchaus emotionale Machtmensch Kohl bekam nicht nur Beifall, als er mit Mitterand spontan in Verdun Händchen hielt. Beide Politiker trieb weniger die Vernunft denn der Traum der europäischen Einigung.

Claudia Roth treibt das Gleiche. Nur, Ihr Europa endet nicht am Bosporus. Und die Zeiten haben sich geändert. Ihr Einsatz mit Leib und Seele wirkt in Zeiten da Politik fest in der Hand von Technokraten ist, so überraschend, als würden Radio Hamburg, RTL, Antenne Bayern oder andere Mainstreamsender plötzlich „Keine Macht für Niemand“, statt das „Beste aus den 80ern, 90ern und die Hits von heute“ spielen. Doch wollen wir so ein Radio, wollen wir solche Politik?

Tim Renner