Wenn man sich heute wundert, dass der im Regierungsauftrag Verbotsregeln für das Internet entwickelnde Vorsitzende der Olivennes Kommission zugleich der Aufsichtsratschef von Frankreichs größer Kulturkaufhauskette FNAC ist, oder in Schweden ein Richter über Pirate Bay urteilt, der nicht nur selbst Mitglied der lokalen Urheberechtsorganisationen ist, sondern auch die Prozessvertreterin der Filmindustrie in Internet-Domain Streitigkeiten berät, dann ist die Erklärung dieselbe wie vor 123 Jahren: Systeme die nicht mit der Zeit gehen und sich umstellen wollen, wehren sich mit allen Mitteln. Im Notfall auch mit welchen am Rande der Rechtsstaatlichkeit. Dieser Tatsache verdanken wir den ersten Mai als „Tag der Arbeit“.

Am allerersten ersten Mai kamen Arbeiter am Haymarket in Chicago zusammen. Sie wollten für im Schnitt 3 Dollar am Tag nicht mehr 12 sondern acht Stunden arbeiten müssen. Der hessische Förstersohn August Spies, Chefredakteur einer Arbeiterzeitung wurde ihr Stimme. Bei der von ihm einberufenen Versammlung am 1.Mai 1886 explodierte eine Bombe und riss sowohl Polizisten als auch Demonstranten in den Tod. Nachweislich hatten weder Spies noch seine Mitveranstalter diese gelegt oder gezündet. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, die eigene Demonstration zu sprengen. Dennoch kamen sie umgehend vor Gericht, wurden verurteilt und gehängt. Das Urteil wurde bereits sieben Jahre später vom Gouverneur von Illinois einkassiert: „Keiner der Angeklagten konnte mit dem Fall in Verbindung gebracht werden. Die Geschworenen waren parteiisch ausgewählt.“ Spies und seinen Gesellen half das nicht mehr. Sie waren tot.

Wie konnte es zu den Justizmorden kommen? Einfluss auf die Rechtssprechung hatten ausgerechnet die genommen, die der Stadt und den Arbeitern dereinst den Fortschritt gebracht hatten: Die industrielle Revolution. Die Menschen waren nicht in ihre Fabriken gestürmt, weil es ihnen dort schlechter gegangen wäre als auf dem Lande. An der Werkbank oder den Maschinen entkamen sie einer Leibeigenschaft wie sie mancherorts in der Landwirtschaft noch gelebt wurde, ihre Kinder bekamen die Chance auf Bildung und das Leben eine gewisse Regelmäßigkeit. Es ging nicht mehr jeden Tag um das nackte Überleben.
Je gebildeter die Arbeiter und ihre Nachfahren werden konnten, desto vernetzter wurden sie aber auch. Sie begannen ihre eigenen Zeitungen zu gründen und Informationen über die Arbeitswelt anderer Länder zu besorgen. Mit dem Wissen stiegen die Ansprüche. Der junge Redakteur August Spies hatte den ersten Mai nicht zufällig für die Versammlung auf dem Chicagoer Haymarket ausgewählt. Exakt ein Jahr zuvor hatten in Australien mit landesweiten Generalstreiks die Arbeiter bereits den Achtstunden Tag durchgesetzt.

Das System der Fabrikarbeit war für die Menschen zu dieser Zeit so übel nicht. Es bedurfte nur einiger Modernisierungen und Verbesserungen. Spies und Co wollten niemanden enteignen, sie waren nur vernetzt und hatten Informationen wie es besser geht. Die Profiteure des Systems fühlten sich von jeder Form der Veränderung bedroht, wollten nichts neu denken und reagierten heftig. Sie manipulierten und beugten den Rechtsstaat.

123 Jahre später befinden wir uns in einer ähnlichen Situation. Es geht lediglich nicht mehr so blutig zu wie dereinst in Chicago. Niemand kann allen ernstes etwas dagegen haben, dass Kreative für ihre Leistung entlohnt werden und Menschen oder Firmen, die diese durch Investitionen möglich gemacht haben, ihr Geld mit Gewinn zurück bekommen können. Es funktioniert aber nicht mehr auf den alten, gelernten Regeln des Urheberrechts. Der Nutzer ist vernetzt und wenn einer am hintersten Ende der Welt es auszuhebeln weiß, bekommt man das überall mit. Der 12 Stunden Tag fiel damals auch in Australien und selbst ohne Internet führte das zu den Haymarket Riots tausende von Meilen entfernt.

Die Idee von Denis Olivennes (siehe Foto), dass alle Internet-Anbieter ihre Kunden dauerhaft vom Netz nehmen müssen, sobald diese dreimal verdächtig große Datenmengen bewegt haben, soll das alte Urheberrecht verteidigen. Genau das gleiche treibt Tomas Norstrom, wenn er diejenigen, die auf illegale Files im Netz verweisen zu Haft und Geldstrafen verurteilt. Beides ist gut gemeint, aber nicht zielführend. In der Konsequenz bedeutet Olivennes, dass die Internetnutzung der totalen Kontrolle des Staates unterliegen muss und der Missbrauch zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt. Entgegen des Gebots der deutschen und europäischen Verfassung hätte der Ausgeschlossene keinen freien Zugang zu Informationen mehr. Wer das Urteil von Herrn Norstrom zu Ende denkt, muss auch die Besitzer von Google einsperren. Über jede Suchmaschine können illegale Inhalte gefunden werden.

Statt eine Debatte über die Erneuerung des Urheberrechts zu führen, es den digitalen Realitäten anzupassen und eine faire Vergütung für Kreative und ihre Geldgeber durchzusetzen, wird größte Härte gefordert oder durchgesetzt. Die eigene Befangenheit von Richtern und Fachleuten versperrt ihnen die Sicht auf mögliche Lösungen. Anders als vor 123 Jahren wird der Protest darüber zum Glück nicht zu weltweiten Gedenktagen mit teils gewalttätigen Kundgebungen führen. Die Gefahr dass mangels Mut zur Erneuerung und Überreaktion in der Verteidigung der alten Systeme, ihre eigene Abschaffung befördert, ist jedoch genauso gegeben. Nach den Arbeiteraufständen in den USA geschah das in Russland durch die Oktoberrevolution mit Zwangskollektivierung und Gulags für Industrielle. Der Ruf nach totaler Enteignung der Kreativen im Netz folgt einem ähnlichen Konzept. Deshalb: Völker hört die Signale und denkt ein neues Urheberrecht!