Im Grunde bin ich ein friedfertiger Mensch. Selten gibt es Dinge, die mich so richtig rasend machen. Doch heute ist es mal wieder so weit und ich muss mich aufregen.

Aufregen über eine Gesellschaft, die Probleme schafft, wo keine sind, anstatt sich mit den wirklich wichtigen Dingen dieser Welt zu beschäftigen. Aufregen über eine vom Kapitalismus zerfressene Industrie, die uns weiß machen will, dass natürliche Triebe Krankheiten sind und über uns alle (und ich nehme mich dabei keinesfalls aus!), die wir wie die Lemminge dabei mitmachen, ohne auch nur einmal über die Sinnhaftigkeit nachzudenken.  

Anlass für meinen montäglichen Bluthochdruck, ist ein Plakat, das seit Neuestem in mehrfacher Ausführung die Wände der Berliner U-Bahnhöfe schmückt. Zu sehen sind Herr und Frau Strichmännchen, die neben einem Bett stehen. Er hält seine Hose auf. Sie starrt gesenkten Hauptes auf sein nur zu erahnendes bestes Stück. Wie? Was? Schon wieder eine neue Version von Viagra? Falsch gedacht. Diesmal geht’s nicht um die begehrte Standhaftigkeit seines Johannes, sondern um dessen Durchhaltevermögen. Und für alle, die dieser großartigen Grafik das „Problem“ nicht entnehmen können, soll ein Text – der einer Weltuntergangsvorhersage an Dramatik um nichts nachsteht – für Aufklärung sorgen: „Jeder 5. Ist betroffen“, schreit es von den Wänden. „Vorzeitiger Samenerguss ist behandelbar“, heißt es weiter.

BÄM! Falls ihr Männer es noch nicht wusstet: Ihr seid alle funktionsgestört! Wieso? Na, weil ihr uns nicht mal eine volle Episode Sex and The City (schlappe 30 Minuten) lang bespaßen könnt, damit nicht der Norm des durchschnittlichen 2.0 Liebhabers entsprecht und das weibliche Geschlecht einfach maßlos enttäuscht!!!

Besucht man die (un-)heilversprechende Internetseite mit dem obligatorischen Namen www.späterkommen.de scheinen alle Probleme des Mannes für immer gelöst zu sein: Eine ausführliche Schilderung des ominösen Krankheitsbildes inklusive lateinischer Bezeichnung (Ejaculatio praecox klingt schon echt krass bedrohlich), beruhigende Worte des Experten Dr. (Prae-)Cox, die besten Behandlungsmöglichkeiten (die Therapiekosten sind selbstverständlich vom Patienten selbst zu tragen), und zum Schluss ein komplett sinnfreier Selbsttest. Halleluja! Darauf haben wir alle gewartet. Endlich ein weiterer, durch gesellschaftliche Konventionen geschaffener Störfaktor der menschlichen Beziehung, mit dem wir uns neben Lebensmittelallergien und Burnout herumschlagen dürfen.

Klar, ich erkenne die Problematik und kann verstehen, dass ständiger Fünfsekunden-Sex auf die Dauer unattraktiv sein mag. Doch sehe ich darin kein ernsthaftes und vor allem kein medikamentös zu behandelndes Problem. Ich mag vielleicht naiv sein, aber sollte es für eine Frau nicht das schönste Kompliment sein, wenn er bei ihrem Anblick derart in Extase gerät, dass er nach kurzer Zeit zum Höhepunkt kommt? Seit wann ist denn der Samenerguss – auch wenn er schon nach kurzer Zeit erfolgt – eine Krankheit? Und wenn wir schon dabei sind, wer bestimmt überhaupt, was „zu früh“ ist? Ich will an dieser Stelle nur mal kurz daran erinnern, dass der Liebesakt (ja, auch der menschliche) aus Sicht der Evolution auch nur dazu da ist, um sich fortzupflanzen. Und das scheint bei einer stetig steigenden Weltbevölkerung und einer chinesischen Ein-Kind-Politik ja hervorragend zu funktionieren. Abgesehen davon kenne ich wirklich wenige Frauen, denen es gelingt beim Akt an sich zum Orgasmus zu kommen, geschweige denn, die Marathonsex bis zur absoluten Trockenheit wirklich genießen. Warum sollten sich Männer also einreden lassen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt?

Was wir hier erleben, ist die grundlose Erschaffung eines weiteren reinen Luxusproblems, das uns so lange unterschwellig eingebläut wird, bis wir es tatsächlich als solches ansehen. Ein Luxusproblem, das, wenn überhaupt, sicherlich auch anders „behandelbar“ ist, als mit der Einnahme von Medikamenten. Es ist traurig, dass es Leute gibt, die sich an der Leichtgläubigkeit anderer bereichern. Es ist noch viel trauriger, dass wir das mit uns machen lassen.

Vielleicht sollten wir also alle damit anfangen, unsere Erwartungshaltungen zu überdenken, uns gegenseitig den (sexuellen) Druck zu nehmen und einfach mal zu genießen, wenn wir begehren oder begehrt werden. Der Samenerguss – sei er nun früher oder später – ist kein Problem, sondern viel mehr das Leben. Und wer auf Ausdauer steht, weiß ja, was er zu tun hat: Üben, üben, üben! 

Mariella Gittler