Mit “Pure Vernunft darf niemals siegen” haben Tocotronic ihr vielleicht bestes Album vorgelegt. Und auch wenn es für das Hamburger Aushängeschild in Sachen Indie-Rock in letzter Zeit einige Unannehmlichkeiten zu beobachten gab, ist diese Band von Resignation weit entfernt. Arne Zank (Schlagzeug) und Dirk von Lowtzow (Gesang, Gitarre) erklären, warum.

Euer neues, inzwischen siebtes Album überrascht auf ganzer Linie. Rauherer Sound, direkte Texte und vollmundige Parolen. Wie kam es dazu?

Arne: “Auf unserem letzten, selbstbetitelten Album wollten wir andere Dinge in den Vordergrund stellen und ein wenig vielseitiger wirken. Die aktuelle Platte sollte einfach wieder direkter und unbefangener klingen.”

Dirk von Lowtzow: “Slogans hatten wir auch auf den letzten Platten: ‘Morgen wird wie heute sein’ oder ‘Dringlichkeit besteht immer’. Das neue Album haben wir deswegen so benannt, weil das Titelstück für uns eine zentrale Rolle hatte. Es sticht hervor, und nachdem wir zuletzt gar keinen Albumtitel mehr hatten, wollten wir wieder ganz bewusst ein Statement setzten.”

Wenn man die Texte im Booklet nachliest, stößt man immer wieder auf subtile Aufforderungen wie Riskier etwas! Sei unvernünftig! Sei Wütend! Rebelliere! – Was genau stört euch momentan?

Dirk: “Zu nörgeln gibt es immer etwas. Doch die derzeitige Situation der Musikkultur ist teilweise furchtbar. Dieses ‘Wir-Gefühl’, das sich nicht auf gemeinsame Ideale, sondern nur auf die Nationalität stützt, geht uns gegen den Strich. Plötzlich stellen sich Musiker hin und behaupten, dass man doch auch mal ein bisschen deutsch sein dürfte. Dabei wird dieser Begriff so unreflektiert verwendet, dass er plötzlich überall auftaucht.”

Arne: “Natürlich ist es als Band, die selbst deutschsprachige Musik macht, schwer, Position zu beziehen. Aber wir haben das Gefühl, dass es nicht mehr nur um Musik geht, sondern, dass das Ganze auch ein inszeniertes Politikum ist.”

Spielt ihr damit auf die öffentliche Debatte um die Radioquote an?

Dirk: “Es ist ja nicht nur dieses Deutsch-Ding, sondern auch die Suche nach einem ‘neuen’ Wir-Gefühl, was diese ganze Bewegung so fragwürdig erscheinen lässt. Man war schon einmal viel weiter in dieser leidigen Debatte. Und nun wittern die konservativen Ansichten wieder Morgenluft. Plötzlich ist die ‘Political Correctness’ am Ende und einem neuen Ressentiment wird freien Lauf gelassen. Als hätte Kunst etwas mit nationaler Abstammung zu tun. Das ist eine Entwicklung, die uns natürlich sehr stört.”

Als Blumfeld vor einem halben Jahr auf ihrer Homepage den großen Aufstand probten, lehnten sich Tocotronic noch entspannt zurück. Fehlte die Lust an der Debatte?

Dirk: “Es war wohl mehr die Angst, in eine Ecke getrieben und festgelegt zu werden. In einer solchen Situation kann sich eine Band schnell zu bestimmten Zwecken missbrauchen lassen. Das wollten wir nicht, denn wenn man sich zu schnell festlegt, geht das immer auf Kosten der künstlerischen Freiheit.”

Arne: “Wir hatten auch das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, mit dem was wir sagen. Tocotronic gibt es jetzt seit elf Jahren, da sind wir schon so etwas wie die alte Hasen. Man möchte dann nicht unüberlegt irgendwelche Statements von sich geben, die man später bereut.”

“Hamburger Schule”, “Teil einer Jugendbewegung” waren Slogans, die ihr zu Beginn eurer Karriere verwendet habt. Die hatten doch auch einen nationalen Charakter, oder?

Dirk: “Höchstens durch die verwendete Sprache. Wir fühlten uns ja nie als Vertreter eines neuen, deutschen Pop-Selbstbewusstseins. Wir hatten auch ein wenig Angst nach den ersten Platten vor einer möglichen Konsolidierung, also dass wir nun an bis zu unserem Lebensende Trainingsjacken tragen und über den neuen Freund irgendeiner Freundin singen müssen.”

Arne: “All diese Ängste haben uns immer dazu bewegt, bestimmte Richtungen zu ändern oder uns halt selbst zu verändern. Was in den letzten Jahren eine Menge Diskussionen mit sich gebracht hat.”

Damit meinst du die Leute, die genau das von euch verlangen: Trainingsjacken, direktere Texte und ruppigen Lo-Fi-Rock. Wie steht ihr heute zu dieser Hypothek vergangener Tage?

Dirk: “Anfangs dachte ich immer, das wäre unser spezifisches Problem. Doch inzwischen sehe ich sehr häufig, dass es auch anderen Bands schwer gemacht wird, sich weiter zu entwickeln. Klar, jeder Hörer hat ein bestimmtes Lieblingsalbum von seiner Band und ist enttäuscht, wenn der Nachfolger anders klingt. Doch darf man deswegen nicht alles Neue verteufeln.”

Arne: “Ich finde auch nicht, dass wir jetzt im Vergleich zu den älteren Platten plötzlich Klassik machen. Es sind halt nur die Möglichkeiten, die wir neu entdeckt haben. Die Motivation ist immer noch die selbe.”

Hofft ihr, dass die neuen Songs bei euren alt eingesessenen Fans wieder besser ankommen?

Dirk: “Das hofft man immer. Wir wollten mit den letzten Album niemanden absichtlich vor den Kopf stoßen. Aber man muss sich als Künstler treu bleiben und seine Ziele klar im Auge behalten. Lässt man sich lenken, leistet man nur noch Dienst nach Vorschrift. Und damit wäre niemanden geholfen. Wir freuen uns jedenfalls sehr auf die anstehende Tour. Dann gibt es auch endlich die Möglichkeit aus erster Hand zu erfahren, wie das neue Album ankommt.”

Text: Marcus Willfroth