Im Tierreich sind Walrösser die schwerfälligeren Verwandten der Robben. Den Jolly Goods bedeutet der Dickhäuter weit mehr – in einer festgefahrenen Welt wird er lyrisch wie musikalisch zum Symbol des Ausbruchs.
An der Bergstraße im südhessischen Odenwald liegt ein Nest namens Rimbach. Rund 8500 Seelen hausen dort in lauschiger Kulisse. Die Gemeinde hat alles, was man für ein nettes, beschauliches Leben braucht, alles läuft seiner wohlgeregelten Wege in unüberholtem Trott. Und so kann es sein, dass sich zwischen all dem Dorf-Komfort die Kleinbürgerlichkeit doch allzu sehr in manch einen Geist eingeschlichen hat.
2003 befiel die Schwestern Tanja Pippi und Angy endgültig jene Klaustrophophie, die in solcherlei Szenerien schnell alle Querdenker in die Enge drängt. In der Musik fanden sie den Sprengstoff, sich Luft zu verschaffen und für jahrelang angestaute Wut und Langeweile ein Ventil. Vorbilder boten sich im Grunge, auch fanden sich mit den White Stripes oder Patti Smith musikalische Paten. Ein Jahr nach Gründungsbeschluss der Jolly Goods zeigte sich das erste energetisch-krachige Ergebnis auf der Demo-CD “Rosemary”. Es folgten Jahre voll Unverständnis – “Es hieß nur, dass wir nicht spielen können und einen Bass brauchen”, erklärte Sängerin und Gitarristin Tanja Pippi einmal in einem Interview.
Jolly Goods – “Walrus” (Albumstream)
Von derlei Stimmen unbehelligt, tingelten sie durch die Umgebung, traten auf den winzigen bis kleinen Festivals der Region auf, spielten sich nach und nach zum Status des Geheimtipps herauf und aus der dörflichen Beklemmtheit hinaus. Sie schrieben den Song “Girl Move Away From Here”, eine Art Eigenaufforderung, das Nest zu verlassen und schleichend begann die Übersiedlung in die möglichkeitsschillernde Hauptstadt, die heimwehkranke Kreativköpfe aus aller Welt stets magisch anzog. Die große Schwester begann und Angy folgte mit dem Schulabschluss. So meldeten sie sich mit ihrem Debüt “Her.Barium” im Jahr 2007 schon aus Berlin. Mit Louisville fand sich ein gelungener Labelpartner für den lärmenden Aufschwung, der ganz nebenbei den deutschen Akzent in der englischen Sprache einmal wieder bühnenfähig machte. In bisweilen gelungen dilletantischer Garagen-Manier schleuderten sie deutliche, laute Worte, verpackt in krachige Epen, hinaus in die Welt – Titel wie “Too Dumb To Love” oder “You Look Like Shit” sprechen Bände. Ihre Mittel waren dabei einfach – Gitarre, Verzerrer und eine Stimme zwischen Rufen, Fauchen und mädchenhaftem Zirzen, dazu polterndes Schlagzeug und Klavier – Ausdruck stand stets vor spielerischer Perfektion. Trotz einiger Erinnerungen an klischeebeladene Riot Grrrl-Attitüden schafften sie es dabei stets für sich selbst zu stehen. Tocotronic-Produzent Moses Schneider mischte die Songs, womit sich neue Bekanntschaften zu etablieren begannen.
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich kein anderer als Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow fand, das Zweitwerk als Produzent zu begleiten. Das kürzlich veröffentlichte Album trägt den Titel “Walrus” und erhielt des Weiteren Unterstützung von Hans Unstern. Der alteingesessene Liedermacher, der aus ganz ähnlichen geografischen Lagen stammt, steckt zum Beispiel hinter den tieferen Gesängen in “Winters Bone” und begleitet außerdem zusammen mit seinem Bandmusiker Simon Bauer die Schwestern bei ihren Liveauftritten. Obschon das klangliche Grundprinzip den Wurzeln treu geblieben ist, sind die Jolly Goods von heute nicht mehr die selben Mädchen, die mit Garage-Noise-EPs genervt aus dem Dorf in die Welt trieben. “Walrus” hat Biss, den geschliffene, durchdachte Aussagen mit sich bringen. Nicht mehr länger steht nur wüstes Herumtoben im Vordergrund. Songs wie die eingängige Single “Try” stellen in ihrer kritischen Attitüde durchaus gedankliche Herausforderungen: “Try, don’t let me try to change your life” heißt es griffig im Refrain und doch entgleitet die Aussage nahezu gänzlich. Steht dieser Satz für sprühende Ironie gegenüber einer festgefahrenen Gesellschaft, ist es ein Auspruch aus einer Außenperspektive oder doch der Blick nach Innen im Gewirr einer Beziehung? Das zugehörige Video, das mit Androgynität und der Geschlechterfrage spielt, lenkt diese Überlegungen in neue Richtungen und vervollständigt den Track zu einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk.
Jolly Goods – “Try”
Das Hinterfragen jedweder Rollenbilder zeigt sich neben Einblicken in das komplizierte menschliche Miteinander in verschiedener Gestalt. In “If I Were A Woman” stellen die Schwestern ihre geschlechtliche Identität mit den provokanten Worten “I touched myself where the raindrops miss / if i were a woman” in Frage und resultieren schließlich in der skurillen Sehnsuchtsbekundung “All I know is that I wish I was a walrus”. Die kritischen, politischen Stimmen mögen hier zwar zwischen den Zeilen sitzen, dennoch sind sie überdeutlich zu vernehmen. Auf musikalischer Ebene sind einige elektronische Anklänge zu hören. Auch sonst zeigt sich das Album offen gegenüber frischen Ideen: Orgel und Sirenengesang ergänzen den üblichen LoFi-Sound in “Failure” und in “Sad Side Of The Tongue” breiten sich Post-Rock-Ebenen aus. Mit einem neuen Leise stellt sich das Duett gegen den Stempel des Riot-Grrrl-Image: Das herrlich abstrakte “Winters Bones” beginnt schunkelnd-schleppend als zarte Ballade, wonach es sich mit einigen so simplen wie wirkungsvollen Rhythmusverschiebungen gemächlich zu einem Chor aufwiegt, der in Protest-Song-Manier beharrlich die Hookline “We are not what we want to be” wiederholt.
Das Weird-Pop-Finale “Any Trays” endet in schallendem, affektieren Gelächter, was das I-Tüpfelchen auf die zweischneidige Gestalt des Albums setzt. “Walrus” schwankt und fällt unhaltbar zwischen Sinn und Unsinn, Ironie und Surrealismus, Parole und heimlicher Kritik und trifft damit einen Nerv. Die Jolly Goods besetzen damit jene Nische zwischen angriffslustigem Krawall, zugänglichem Pop und lyrisch-politischen Inhalten, die vielleicht seit der Blütezeit der Hamburger Schule nicht mehr so gelungen gefüllt wurde.
Tabea Köbler
VÖ: 23.09.2011
Label: Staatsakt
Tracklist:
1. Black
2. Travel
3. The Trees
4. Failure
5. Thanks For Your Tip
6. Try
7. Winter Bones
8. The Lines
9. If I Were A Woman
10. Sad Side Of The Tongue
11. Freight Train
12. Any Trays
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