Therapy? über zu viel Mittelmäßigkeit im Internet, Chinas kommende Weltherrschaft und verzogene, weiße Mittelschichts-Kids im Rock’n’Roll.
Die Punkrock-Band Therapy? ist nach 20 Jahren Bandgeschichte und zwölf veröffentlichten Alben eine Institution der britischen und speziell nordirischen Musikszene. Sänger/Gitarrist Andy Cairns und Bassist Michael McKeegan sind die beiden verbliebenen Gründungsmitglieder, nach einigen Drummerwechseln heißt der aktuelle Schlagzeuger Neil Cooper. Das Trio, das im März sein neues Album “Crooked Timber” veröffentlichte, gibt sich im Gespräch entspannt, ausgesprochen reflektiert – und witzig.
motor.de: Nach 20 Jahren im Musikgeschäft: haltet ihr euch für die bekannteste Band aus Nordirland?
Cairns: Ich denke, der bekannteste nordirische Musiker ist Van Morrison. Und dann gibt es natürlich noch eine Band namens Snow Patrol. Wir sind also die Drittbekanntesten. Obwohl – es gibt auch noch Stiff Little Fingers und die Undertones. Aber wir sind definitiv in den Top Ten! [alle lachen]
motor.de: Wie habt ihr es über all die Jahre geschafft, euch eine so treue Fangemeinde zu erhalten?
Cairns: Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Es ist ein Auf und Ab. Wenn wir in einem Jahr in einem bestimmten Land viele Alben verkaufen und unsere Konzerte ausverkauft sind, können wir zwei Jahre später wiederkommen und die Clubs sind leer. Und noch mal ein Jahr später sind sie wieder voll. Wir haben Glück, dass wir an vielen Orten auf der Welt eine gute Fanbase haben. Sie sind der Grund, warum es uns noch gibt.
McKeegan: Vor kurzem erzählte uns ein belgischer Fan, dass er sein erstes Therapy?-Konzert 1993 gesehen hat und inzwischen bei 100 weiteren gewesen ist. Das ist ziemlich verrückt und gleichzeitig sehr schmeichelhaft für uns.
Cooper: Mit jedem Album, das wir veröffentlichen, kommen neue, jüngere Fans hinzu, während andere natürlich älter werden. Sie bekommen Kinder, gehen zu weniger Konzerten usw. Man braucht also ein sich erneuerndes Publikum. Man muss neue Fans gewinnen, weil die alten sterben oder so ähnlich… [alle lachen]
motor.de: Ihr gewinnt also mit jedem Album noch neue, junge Fans hinzu?
Cairns: Auf jeden Fall. Musik bewegt sich in Kreisläufen. Als Grunge aufkam, hieß es: “Niemand wird mehr ein Bandana kaufen! Niemand wird mehr ein Gitarrensolo spielen!” Und danach waren Mötley Crüe und Guns’n’Roses wieder da. Nach Nirvana kamen solche Bands wieder, weil sich die Leute nach einer gewissen Zeit von einer bestimmten Art von Musik gelangweilt fühlen. Und jetzt wird schon wieder von den 90ern geredet, im UK gibt es zurzeit ein Grunge-Revival, verdammt noch mal! Wir machen Gitarrenmusik, und diese wird nie besonders hip einerseits oder total out andererseits sein, sie ist einfach immer da. Wir drücken mit unserer Musik etwas aus, das Menschen überall auf der Welt etwas bedeuten kann. Obwohl wir mit einem Popmedium arbeiten, bei dem es auch auf Frisuren und die richtigen Hosen ankommt, ist es am Ende die Musik, die zählt.
motor.de: Ist es schwierig für euch, sowohl die Erwartungen der jungen als auch der älteren Fans zu erfüllen?
Cairns: Eigentlich nicht. Es gibt viele Bands in unserem Alter, die einmal im Jahr auf Tour gehen und nur alte Songs spielen – das habe ich noch nie verstanden. Natürlich spielen wir auch alte Sachen, aber auch viel Neues. Wenn du dich nur als Dienstleister für Hardcore-Fans siehst, kommst du in Schwierigkeiten, weil du dich nur auf Weihnachts- und Jubiläumsshows beschränken lässt. Unsere Sets umfassen circa 20 Songs und es wäre ein Leichtes für uns, das Meiste davon mit Hits aus den 90ern zu füllen, aber das wäre irgendwie ätzend.
motor.de: Ihr bekommt auch nicht mehr so viel Aufmerksamkeit der Medien wie früher…
Cairns: Wenn man nicht gerade die Red Hot Chili Peppers oder Green Day ist, ist es ganz normal, dass das nachlässt. Wenn wir weiterhin Millionen Alben verkauft hätten, bekämen wir mehr Aufmerksamkeit, aber wir sind immer noch da. Wenn ein Journalist mit uns sprechen will, machen wir das, aber da wir nicht bei einem Majorlabel sind, gibt es keinen Zwang, die Medien zu “bedienen”.
motor.de: Wie geht ihr mit den Möglichkeiten der neuen Medien um?
Cairns: Wir gehen damit um, wie mit allem, was während unserer Karriere aufkam. Wir haben eine Myspace-Seite, eine Website… Myspace ist genauso ein Unternehmen wie der Rolling Stone. Leute von Plattenfirmen adden jede Nacht Freunde für deren Bands. Und Journalisten von Online-Magazinen sind genauso erfüllt von ihrer Selbstherrlichkeit wie die von gedruckten Zeitschriften. Das Internet entwickelt sich die ganze Zeit und wir halten uns auf dem Laufenden, wir benutzen alle Computer. Anscheinend denken Viele von uns, dass wir noch mit Feuersteinen versuchen, unsere Fackeln anzuzünden. [alle lachen] Die Medien werden immer in der einen oder anderen Form existieren und Rock’n’Roll wird immer zu seinen Hörern finden.
McKeegan: Viele Leute finden das Internet gut, weil es jeder Band die Möglichkeit bietet, ein Album an die Öffentlichkeit zu bringen. Dadurch ist natürlich auch der Weg für viele schlechte Musiker geebnet, genauso wie die Qualität vieler Online-Publikation ziemlich niedrig ist. Durch die Möglichkeiten von Digitalkameras gibt es nun auch viel schlechte Photographie. Es gibt also ein großes Maß an Mittelmäßigkeit und ich hoffe, dass die guten Bands, der gute Journalismus und die gute Photographie sich davon abheben können.
Cairns: Welche Band hat denn wirklich nur durch das Internet den absoluten Durchbruch geschafft? Du hörst von einer Band mit so-und-so-vielen Downloads und dann siehst du das erste Video, dass mit zwölf Kameras aufgenommen wurde und einen perfekten Sound hat. Es wurde nämlich nicht mit einem Kamerahandy aufgenommen. Wenn das Internet also ein so großes Werkzeug ist, wann kam denn der letzte Headliner-Act eines großen deutschen Festivals direkt aus dem Internet? Welcher Headliner bei Rock am Ring oder dem Hurricane Festival hat sein Video mit einem Kamerahandy aufgenommen und sein Album mit Fruity Loops [eine Musik-Software, Anm. d. Autors] eingespielt? Keiner! [alle lachen] Weil sie ein PR- und Marketingsystem hinter sich haben. Sie können zwar sagen, dass ihre erste Single 25.000 Klicks im Internet bekam, aber gleichzeitig arbeiten sie mit einer großen Agentur in London zusammen. Es ist immer die gleiche Leier. Mir würde nichts mehr gefallen als ein paar unverschämte Jungs, die sich im Proberaum selbst aufnehmen und dadurch zur beliebtesten Band auf dem Planeten werden. Aber so funktioniert das Leben nicht.
motor.de: Ist also das ganze Gerede von der musikalischen “Online-Demokratisierung” nur ein Schwindel, weil die Plattenfirmen dahinter stehen?
Cairns: Natürlich sind sie ein Teil davon. Sie haben es auch gepusht, aber aus purem Eigeninteresse. Sie haben die Digitalisierung von Musik vorangetrieben, um sie auf CDs packen zu können, die teurer als Schallplatten sind. Aber die Digitalisierung ebnete auch den Weg für das Internet und jetzt kauft keiner mehr CDs. Die Plattenfirmen haben sich also selbst gefickt. Aber das Internet ist lange nicht so demokratisch, wie wir glauben. Ich fände es toll, wenn wir Vier jetzt einen Song aufnähmen, ihn online stellten und dann in zwei Monaten einen Haufen Klicks bekämen. Aber dafür muss man bestimmte Leute kennen.
Cooper: Wie du schon sagtest, das Internet ist sehr demokratisch. Es ist die eine Sache, wo keiner seine Hand vollständig drauf legen kann. Aber 99,9 Prozent der Leute, die sich Musik im Internet anhören – die einen 9-to-5-Job machen und kein tiefgehendes Interesse an Musik haben – wissen nicht, was sie hören sollen oder was wirklich gut ist. Es ist schön, die riesige Auswahl im Internet zu haben, aber Viele brauchen einfach diesen “Coca-Cola-Stempel” zur Orientierung. Sonst wären sie von der schieren Masse überwältigt.
motor.de: Das ist alles sehr interessant, aber lasst uns noch mal zu eurer Band zurückkommen. [alle lachen] Gibt es nach 20 Jahren etwas, was ihr als euren besten oder schlimmsten Bandmoment bezeichnen würdet?
Cairns: Meiner Meinung nach sind es die kleinen Dinge, die zählen. Nicht die Headliner-Gigs auf großen Festivals, nicht die Albumverkäufe, nicht die goldenen Schallplatten. Ich erinnere mich gerne an Dinge wie das erste Mal, als ich unsere erste Single in einem Plattenladen in Belfast im Regal stehen sah. Oder das erste Mal, als Radio-DJ John Peel unseren Song gespielt hat. Oder letztes Jahr, als wir Headliner in der Ulster Hall in Belfast waren, die ein legendärer Veranstaltungsort ist. Es ist genauso wie im richtigen Leben, es sind die kleinen Dinge, die es ausmachen.
McKeeagan: Ich stimme Andy zu. Gleichgesinnte Musiker und die Helden seiner Jugend zu treffen und mit ihnen abzuhängen, das ist großartig. Oder die Möglichkeit zu bekommen, in Deutschland Konzerte zu geben. So etwas sind für mich die Highlights. Auch die Atmosphäre innerhalb der Band möchte ich nicht missen. Das war mit bestimmten Ex-Mitgliedern schon anders, als man sie für ein Konzert extra motivieren musste. Uns geht es um die Musik und die Performance und nicht darum, an der Bar abzuhängen und beliebt zu sein.
motor.de: Ihr habt einige Lineup-Veränderungen hinter euch, nur Andy und Michael waren von Anfang an dabei…
Cairns: Wir haben die Band gegründet, weil wir Musik machen wollten. Wenn du als Kind im kleinen Nordirland aufwächst, träumst du davon, rauszukommen. Und dann bekommst du einen Plattenvertrag und dir bietet sich diese Möglichkeit wirklich. Ist es so einfach? Eben nicht! Viele Leute sind aus anderen Gründen dabei. Wir wollen nur unseren Lebensunterhalt mit Musik verdienen. Und es ist toll, dass wir das immer noch können. Viele Leute im Rock’n’Roll-Business machen sich ihr Leben aber kompliziert. Du hast vor dem Konzert zwölf Fleischpasteten gegessen, kannst jetzt nicht Schlagzeug spielen und denkst, es ist nicht deine Schuld? Und ob es deine verdammte Schuld ist, du verfressener Bastard! [alle lachen] Wenn ich zwölf Bier trinke und mich am nächsten Tag nicht gut fühle, gehe ich trotzdem auf die Bühne, weil es meine eigene Schuld ist. Der Rock’n’Roll ist voller verzogener, weißer Mittelschichts-Kids. Fuck ’em all! [grinst]
motor.de: Gibt es im Moment eine Band, die ihr gerne eines Tages als eure “Erben” sehen würdet?
Cairns: Vielleicht bin ich nicht arrogant genug, um zu glauben, dass das Jemand werden will. Ich bin einfach froh, dass es uns noch gibt. Es ist aber schön, wenn junge Bands zu dir kommen und erzählen, dass du einen großen Einfluss auf sie hättest. Ich sehe aber Niemanden, der wie Therapy? klingt. Bands, die wir bewundern, sind auch von verschiedenen Musikrichtungen beeinflusst, und genauso hören wir auch unterschiedliche Arten von Musik.
motor.de: Ist dieses Hören unterschiedlicher Musik wichtig, um euch neue, frische Einflüsse für euren Sound zu holen? [alle nicken]
Cairns: Ich ziehe viele Ideen für Gitarrenparts daraus. Wenn du als junge Band vor allem mit dem Corporate Rock von MTV und Viva aufgewachsen bist und Musik machen willst, wirst du höchstwahrscheinlich genauso klingen. Wenn du Glück hast und den Durchbruch schaffst, wirst du schnell selbst Teil dieses Corporate Rock wie z.B. Paramore. Wenn du dir aber Sachen wie Lightning Bolt, Sunn O))) oder Dubstep anhörst, musst du einen gewissen Mut beweisen, solche Einflüsse in deine Gitarrenmusik einzubauen. Versteh mich nicht falsch, wenn du eine Genreband bist und die Erwartungshaltung bedienst, ist das nichts Schlimmes. Die Leute wollen Dinge hören, die sie kennen. Therapy? ziehen ihre Einflüsse aus ganz unterschiedlichen Musikstilen, deshalb werden wir wohl nie U2 werden, weil wir nicht die offensichtlichen Knöpfe drücken. Das heißt zwar, dass wir niemals so viele Platten verkaufen werden [alle lachen], aber dafür sind wir für eine Menge cooler Musik offen. Ich könnte nicht in einer “Formelband” wie AC/DC oder den Ramones sein, weil jedes Album exakt gleich klingt. Das ist zwar in gewisser Weise das Großartige an ihnen, aber ich könnte in keiner Band spielen, bei der jedes Album wie “Troublegum” klingt, da würde ich verrückt werden.
motor.de: Gibt es ein Land auf der Welt, wo ihr noch nie wart, aber gerne einmal auftreten würdet?
Cairns: Ich würde gerne einmal in China spielen. Ich würde es gerne kennen lernen, bevor es die Weltherrschaft übernimmt und ich mit 60 Jahren in einer Weinbar “Troublegum”-Songs spielen muss. [alle lachen] In der irischen Bundesrepublik China…
Interview: Eric Bauer
No Comment