Ein Festspiel ruft zum Putsch gegen die eigenen Reihen. Das Berliner A L’arme – Festival schickt sich an, den Jazz zu revitalisieren – mit brachialen Methoden.
While my trumpet gently weeps – Peter Evans zum Festivalauftakt.
Es ist ein schwarzer Fleck inmitten des ansehnlichen Mediaspree-Areals zwischen Eastside Gallery und Jannowitzbrücke, der den Baukünstlern einer medialen Zukunft Kopfschmerzen bereitet. Dort erstreckt sich das Gelände der Eisfabrik, einer Industriebrache in eindrucksvoller Backsteingotik, deren glorreiche Vergangenheit, ähnlich wie ihr damaliges Fabrikat, vor dem Auge des Betrachters langsam dahinschmilzt. Ihre brüchige Silhouette zeichnet sich – in mildes orangefarbenes Licht getaucht – vor dem Berliner Sonnenuntergang ab. Vis-á-vis, am anderen Ufer der Spree, hat das Morgen bereits Einzug gehalten – in Form des Radialsystem V, einem ehemaligen Pumpenwerk, auf dessen Schultern heute ein avantgardistischer Glaskubus thront. Eine architektonische Symbiose, die eindrucksvoller Beleg dafür ist, dass Tradition und Moderne kaum Schnittmengen teilen müssen, um beschaulich – mitunter gar einander innervierend – zu koexistieren.
Louis Rastig ist hier für vier Tage Ehrengast. Der junge Berliner Pianist kuratiert das erste A L’arme Festival, dessen ambitioniertes Ziel es ist, einen hierzulande überintellektualisierten, abseits popkulturellen Engagements agierenden Jazz, vermittels einer saftigen Ohrfeige, zurück in die Realität zu holen. Seine musikalischen Mitstreiter hat er mit Bedacht gewählt – so treffen auf dem viertägigen Spektakel Persönlichkeiten aus vier Kontinenten aufeinander. Der Blick in den Veranstaltungskalender offenbart ein munteres Besetzungsroulette, dessen gemeinsamer Nenner – und hier wird es interessant – nicht in der Musik per se, sondern im Idiom ihrer Artikulation liegt. Was die Musiker verbindet, ist eine Art kollektive Mentalität – Jazz mit Punk-Ethos könnte man es nennen.
The Cherry Thing – Paal Nilssen-Love, Neneh Cherry, Ingebrigt Håker-Flaten und Mats Gustafsson.
Eine – wie sich in den kommenden Tagen herausstellen wird – gleichermaßen explosive wie produktive Mixtur, die traditionelle Hörgewohnheiten ad absurdum führt, um ihnen anschließend genüsslich ins Gesicht zu spucken. Vom Besucher erwartet das allerhand Bereitschaft, diese Irritation als kreativen Gegenentwurf zur eigenen ästhetischen Perspektive zu betrachten. Auf Seite des Rezipienten geht es nicht primär um die, sich spontan herauskristallisierenden, musikalischen Gebilde, der Fokus liegt viel mehr auf der Interpretation des Kontexts ihrer Entstehung – dem Spannungsverhältnis von künstlerischer Artikulation und individuellem Musikverständnis.
Peter Evans, seines Zeichens New Yorker Trompeten-Vrtuose, eröffnet den ersten von vier Festivalabenden. Er lächelt bescheiden, verneigt sich höflich und greift unverzüglich zur Waffe seiner Wahl. Was folgt, ist eine dreiviertelstündige Geräuschtirade, die von gequältem Quietschen über rhythmisches Ventilklackern und bedrohlichem Grummeln bis hin zu Geschrei alles enthält, außer – nun ja – den konventionellen Klang einer Trompete. Der Mangel an Struktur, die Unmittelbarkeit und das Überraschungsmoment dieses Schauspiels verströmen eine beinahe magnetische Anziehungskraft. Noch eine Verneigung, dann adretter Abgang.
Hat sich den jugendlichen Spieltrieb bewahrt – Han Bennink in The Art Of Duo.
Heavyweights! – Masahiko Satoh, Peter Brötzmann und Takeo Moriyama.
Die Inkarnation des Cool – Joe McPhee mit Survival Unit III.
Gen Abend füllt sich die Halle zusehends – eine verheißungsvolle Kollaboration steht ins Haus. Als Mats Gustafsson mit Paal Nilssen-Love und Ingebrigt Hâker-Flaten im Schlepptau die Bühne betritt, brandet Applaus auf. The Thing sind vollzählig. Nur Neneh Cherry fehlt noch. Die schleicht, während die ersten Töne von Martina Topley-Birds “Too Tough To Die” erklingen, noch durch das Halbdunkel der Szenerie. Schließlich begibt sie sich gemächlich schlendernd zum Mikrofon, dem Auge des Sturms, den Mats und Konsorten hinter ihr entfesselt haben. Es ist faszinierend, mit welch spielerischer Leichtigkeit das Quartett ekstatische Instrumentaleskapaden in Songstrukturen einwebt, sie bis zum Bersten dehnt, um doch punktgenau auf dem Schlussakkord zu landen. Immer wieder entstehen kleine Freiräume, dann lässt Neneh sich zurückfallen, gewährt dem Trio Platz zur Entfaltung – Interaktion, geschmeidig wie ein Schweizer Uhrwerk. Nach einer imposanten Variation des Stooges-Klassikers “Dirt” muss man Cherry – Sexus beiseite gelassen – ziemlich dicke Eier zugestehen. Chapeau! Der Abend neigt sich dem Ende zu und mit ihm die kognitiven Ressourcen der Zuschauer.
Die Yoko Ono des Noise – Keiji Haino mit Peter Brötzmann.
Der Mann, der sein Saxophonspiel zum Verb erkoren hat: brötzen – Peter Brötzmann.
Die folgenden zwei Tage gestalten sich im Ausmaß ihrer Experimentierfreude etwas moderater. Free Jazz-Urgestein Han Bennink beeindruckt am Schlagzeug im Duo mit Pianistin Irene Schweizer durch erstaunliche Impulsivität und feinem Gespür für kleine Slapstick-Einlagen, während Peter Brötzmann mit seinen Heavyweights! angesichts geradezu erdrückender Klangfülle die Synapsen zum Glühen bringt. Insgesamt dennoch eine willkommene Entspannung, verspricht der Samstag doch mit Keiji Haino und Caspar Brötzmann einen fulminant abstrusen Festival-Ausklang.
Diese Vorahnung soll sich in der Minute bewahrheiten, als die japanische Noise-Ikone die Bühne betritt und kurz darauf beginnt, manisch auf seine Gitarre einzuschlagen, während Brötzmann seinem gequälten Saxophon eine flirrende Klangkaskade nach der anderen entlockt. In kurzen Intermezzi bewegt sich Haino zu einem seiner drei Mikrofone und brüllt unverständliche Wortfetzen, bevor er sich Hammer und Becken schnappt und wie ein Derwisch über die Bühne tobt. Nach dem Spektakel blickt er kurz auf, so als wäre er aus einem Fiebertraum erwacht, grinst, gibt Brötzmann die Hand und verschwindet samt seiner Gitarre, deren Saitenzahl sich im Laufe des Konzerts halbiert hat. Die Gesichter des Publikums ziert ein buntes Mimik-Potpourri, dessen Extreme zwischen einer Art kathartischer Freude und völliger Verstörtheit changieren. Weiter zu Sohn Brötzmann, der bereits ungeduldig an seiner Bierflasche zuzelt.
The Tradition Trio – Alan Silva, Johannes Bauer, Roger Turner.
Huldigung an eine Lichtgestalt der Avantgarde – Andrea Neuman setzt John Cages “Water Walk” in Szene.
While my guitar gently weeps – Caspar Brötzmann und die Liebe zum Feedback.
Ein sichtlich gerührter Louis Rastig betritt ein letztes Mal die Bühne, bedankt sich gebührend. Sein Plan scheint nicht nur aufgegangen zu sein, vier ausverkaufte Abende beweisen, dass – zumindest in einer Metropole wie Berlin – Jazz weder seine kulturelle Relevanz verloren noch an Vehemenz eingebüßt hat. Er mag sich in den vergangenen Jahren streckenweise dem Blick einer breiteren Öffentlichkeit entzogen haben, aber vielleicht ist es an der Zeit, das klischeebehaftete Genreverständnis zu entstauben und die voreingenommene intellektuelle Verbohrtheit abzulegen. Das ist noch längst kein Garant dafür, Zugang zur Musik zu finden, es zeugt aber allemal von kultureller Aufgeschlossenheit – mehr verlangt auch das A L’arme Festival nicht.
Im Hintergrund klickt es und ein tieffrequentes Brummen erfüllt den Saal. Caspar will nicht länger warten. Im Zusammenspiel mit Michael Wertmüller am Schlagzeug und Marino Pliakas am Bass, folgt nun eine ohrenbetäubende Feedback-Orgie, die selbst eingefleischten Improvisations-Jüngern an die Nieren geht und einige zum Gehen bewegt. Der verbliebene Rest quittiert den Abschluss mit frenetischem Applaus. Vielleicht ist das A L‘arme Festival für den Jazz, was der Glaskubus für das Radialsystem darstellt: ein Symbol für Fortschritt, das mit traditierten Vorstellungen bricht, ohne sie jedoch gänzlich aus den Augen zu verlieren – eine wünschenswerte Irritation.
Robert Henschel
Fotos: Peter Gannushkin / Downtownmusic.net
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