Veranstaltungen mit Hippie–Charakter schätze ich in der Regel gar nicht. Barcamps als Ersatz für gut strukturierte Tagungen erschienen mir deshalb eine wenig reizvolle Idee zu sein: jeder darf sich einbringen, nichts ist geplant und alle sind ganz locker.

Ich bin das fleischgewordene Gegenteil von locker. Einerseits habe ich mich in Hamburg sozialisiert, wo man als extrem kontaktfreudig und extrovertiert gilt, wenn man Menschen die man kaum kennt mit „Moin“ auf der Strasse grüßt, andererseits war ich auf einem Gymnasium das 1968 gegründet worden war und darin eine dauerhafte Verpflichtung sah. Das führt zu früh erlernten Abwehrreaktionen: Ab der zehnten Klasse bestanden die meisten Lehrer darauf, „der Udo“ oder „die Sabine“ zu sein und wollten von den Schülern geduzt zu werden. Meine Freunde und ich fingen daraufhin an, uns mit dem Nachnamen anzureden und die Schule nur noch im Anzug zu besuchen. Unsere Helden waren natürlich Heaven 17.

Das mit den Anzügen sehe ich nicht mehr ganz so eng, aber für die meisten Leute bin ich noch heute der Renner und meine Frau ist die Husemann (Koseform:Husi). Entsprechend missmutig und zudem von höllischem Zahnweh geplagt (man hatte mir kurz davor ein Implantat eingesetzt) ließ ich neulich an einem Wochenende besagte Husemann in Berlin zurück, um zu meinem ersten Barcamp zu fahren. Es ließ sich nicht vermeiden. Ryan Rauscher von der Popakademie hatte sich bei der Zusammenstellung des Mannheimer Future Music Camps (FMC) wirklich Mühe gegeben, ob meiner fehlenden Akreditierung viermal nachfragen lassen und da ich an dem Institut lehre, kam ich um die Nummer irgendwann nicht mehr rum. Die Flüge waren nicht umbuchbar, nicht einmal die Hälfte der Veranstaltung ob Schmerzen schwänzen war eine Option.

Bei der Ankunft bekam ich einen Badge auf dem groß TIM geschrieben stand. Mikroskopisch klein waren da auch noch mein voller Name und ein paar Stichworte (Tags) zu meiner Person zu lesen. Hätte ich einen Edding dabei gehabt, wäre ich versucht gewesen „Bitte siezen Sie mich, Sie Nerd“ drüber zu schreiben. Ich hatte zum Glück keinen Edding dabei. Die erste Session hatte ich jedoch schon verpasst. Diejenigen die meinten etwas beizutragen zu haben, hatten sich gemeldet und ihr Thema den anderen vorgestellt. Anhand des Handzeichens mit dem man sein Interesse zum Ausdruck brachte, wurden die Räume nach Größe und Uhrzeit eingeteilt. Wo was lief, konnte man jetzt an einer Pinnwand sehen. Beim Aussuchen der Sessions half mir als Zuspätkommer die Twitterwand. Tweets von Session Teilnehmern wurden live unter #fmc09 an die Wand projektiert.

„Crowd-Sourcing-Technologies“ klang interessant, da das Thema anhand von Virgina jetzt! dargestellt wurde, Social-Charts stand als Thema in angenehmen Widerspruch zu automatisierten Empfehlungen unter dem Namen „Horst“, die Vorstellung des Projekts „All2gethernow“ war für mich als Mitinitiator natürlich Pflicht, genauso wie die Session zu den Geschäftsmodellen mit Musik im Netz. Damit war der erste Tag dann auch schon gut gefüllt. Zu meiner großen Überraschung wurde nirgendwo einfach nur geschwätzt oder ideologisiert diskutiert. Stattdessen versuchte eine bunte Mischung aus Softwareentwicklern, Medienforschern, Musikern, Journalisten, Musikmanagern und Labelbetreibern mit viel Respekt füreinander Lösungen zu finden. Keine Spur von der entrückten Netzwelt-Haltung, dass alles umsonst sein muss und keiner Geld verdienen sollte. Der Fokus von allen lag darauf zu definieren, was der einzelne aus seiner Position als Nutzer braucht und wie alle von den jeweiligen Modellen und Gedanken profitieren könnten.

Die Schmerzmittel wirkten, die Ergebnisse wurden zusammengefasst und genauso wie alle präsentierten Unterlagen, digital den Teilnehmern zur Verfügung gestellt. Bei Pasta und Salat hatte sich zur Mittagspause meine Laune deutlich aufgehellt. Ganz anders als ihre Vorgänger vor nahezu einem halben Jahrhundert, waren diese digitalen Hippies zielorientiert. Ihnen ging es auch um die Schaffung und Erhaltung von Freiräumen, aber diese wollten alle Anwesenden in Mannheim nicht zur gefälligen Selbstspiegelung nutzen. Ihr Ziel war eindeutig die Verbesserung von Arbeits- und Existenzbedingungen für Kreative und Nutzern von Kreativität im Internet.

Mit Andreas Gebhard von newthinking hatte ich längst vorm abendlichen Grillenn abgesprochen, dass wir uns die Organisationsform des Barcamp natürlich auch auf der All2gethernow zu nutze machen werden. Am 16. Und 17. September werden wir auf diese Art und Weise die Zukunft versuchen zu definieren. Die besten Beiträge werden wir ergänzt um Fachleute und Praktiker die bereits neue Geschäftsmodelle ausprobieren am 18.9. auf der All2gethernow Konferenz präsentieren und das Ganze über drei Tage mit der „Cloud“ begleiten. Die „Cloud“ soll alle Veranstaltungen, die sich in diesem Zeitraum (also den Terminen der abgesagten Popkomm) als dezentrale Events in Firmen, in Clubs oder wo auch immer um die All2gethernow gruppieren zusammenfassen, strukturieren und kommunizieren helfen. Wer dergleichen hat, kann sich bereits unter cloud@a-2-n.de  melden, gleiches gilt via barcamp@a-2-n.de für Themen die man besprechen will.

Zurück auf dem Future Music Camp habe ich am nächsten Tag natürlich auch aus den Sessions heraus getwittert. Gute Kommentare wie der von Peter Esser, dass das größte Problem an nonphysischer Musik sei, dass man nicht früh genug merken würde, wie schlecht der Musikgeschmack des jeweiligen Onenightstands ist, da man ja im Gegensatz zu einem schnellen Blick durch die Plattensammlung schlecht fragen könne, ob man mal ihre Dateien durchsuchen dürfe, waren dabei. Nicht Digital Native der ich nun mal bin, dachte ich der Tweet sei mit #fmc09 auf alle Teilnehmer des Barcamps beschränkt. Als der Kommentar mit meinem Konterfeit Aufmacher des Brachendienstes Meedia wurde, merkte ich, dass das nicht der Fall ist. Ich hab jetzt viel über Barcamps und Twitter gelernt, aber Erklärungsbedarf bei Husemann…