So richtig wichtig ist er nicht. Aber es gibt ihn: Der Kritikerpreis ist so ziemlich die einzige wirklich bemerkenswerte und musikalisch auch ernstzunehmende Kategorie beim Echo.

So sieht er aus: Echo 2012. (Foto: Markus Nass/Echo)

Es ist die Crux aller großen Preise der Musikindustrie, dass sie sich im Spagat zwischen Mehrheitstauglichkeit für ein Massenpublikum und Vergaberegeln, die Erfolg – zumindest offiziell – einzig nach Verkaufsbilanzen und Chartdominanz messen, für den eigentlichen Musikfan in aller Regel diskreditieren. Zu weit weg vom jeweils gerade geltenden Geschmackskonsens jener sind oft die Preisträger der gängigen Kategorien, die sich gern aus den Reihen etablierter aber musikalisch abgefrühstückter Alt- oder gerade mehr oder wenig kurzzeitig angesagter Teeniestars rekrutieren. Bei den – auch für dortige Verhältnisse als brutal kommerzlastig geltenden – Brit Awards führte das vor Jahren schon zu einer Konkurrenzveranstaltung, die einzig die Meinung von Kritikern berücksichtigte. Der Mercury Prize kann zwar mit dem Glamour und der schieren Megapräsenz der Brits in keinster Weise mithalten. Trotzdem gilt er inzwischen als Garant für tatsächliche Qualitätsmusik, der weit über die vergleichsweise kleinen Kreise von Musikkritikern und Musikerszene hinaus Beachtung findet.

Kommt aus Thüringen oder aus der DJ-Jetset-Welt und hat einen Termin in Berlin: Robag Wruhme. 

Der Echo – schon von Anbeginn 1992 stets als reiner “Industriepreis” ausgelegt und in Sachen Preiswürdigkeit noch um ein beachtliches Stück schmerzloser als das popkulturell immerhin noch credibler geprägte Insel-Vorbild – reagierte erst spät auf die auch hierzulande immer wieder offensichtliche Diskrepanz zwischen der musikalischen Qualität dessen, was auf der Bühne als Preisträger ausgezeichnet, und dem, was gemeinhin in ernstzunehmenden Musikmedien über das Jahr hinweg gefeiert wurde. 2009 wurde eine neue Kategorie eingeführt, die eben dies berücksichtigen sollte: der “Kritikerpreis”. Ausgezeichnet werden soll damit “der beste nationale Künstler, die beste nationale Künstlerin oder die beste nationale Gruppe/Kollaboration des Jahres.” Analog zur Lead-Kategorie “Album des Jahres” – dafür nominiert sind in diesem Jahr neben der internationalen Abräumerin Adele, Dauerverdächtigem Herbert Grönemeyer und Echo-Stammgast Udo Lindenberg auch noch Rosenstolz und … nun ja … Helene Fischer – lässt sich das unschwer als “Richtiges Album des Jahres” dekodieren. Denn tatsächlich sind die Nominierungen hier deutlich näher an dem orientiert, worüber man im vergangenen Jahr tatsächlich redete. Oder eben las – natürlich auch bei motor.de.

Nominierte “Kritikerpreis” 2012
Boy – “Mutual Friends”
Casper – “XOXO”
Dillon – “This Silence Kills”
Modeselektor – “Monkeytown”
Robag Wruhme – “Thora Vukk”

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Bestimmt wird der Preisträger denn auch von 20 “renommierten Musikkritikern”. Deren Namen allerdings sind geheim, auch eine ungefähre Angabe über deren Herkunft, die man ja in zumindest angesehenen Musikmedien oder beim lesbaren Feuilleton vermuten sollte, ist offiziell nicht zu bekommen. Ein paar Eckdaten sprechen sich natürlich herum. Der bis vor kurzem amtierende Musikexpress- und Rolling Stone-Chefredakteur war bisher zumindest dabei. Immer irgendwie präsent: Die sogenannten “Jugendwellen” der ARD, deren Spektrum allerdings vom weithin verrufenen MDR Jump (war im letzten Jahr dabei) bis zum durchaus angesehenen bayerischen ON3 (dieses Jahr dabei) reicht. Aber generell gilt: Nix genaues weiß man nicht. Dass das offizielle Argument der Geheimhaltung – die Jury könnte sonst bestochen werden (!) – alles andere als Vertrauen in die Kritiker-Riege dokumentiert, entspricht denn auch dem üblichen Bild von Vertrauenswürdigkeit, mit dem beim Echo gemessen werden muss. Wie ernst soll man also so einen Preis wirklich nehmen?

Immerhin die Vergabe spricht für sich. Wurden mit Peter Fox und Jan Delay noch in den ersten beiden Jahren durchaus respektable, wenn auch wenig überraschende Stars gekürt, sorgte der Sieg von Electronica-Insider Pantha Du Prince mit seinem formidablen “Black Noise”-Album im letzten Jahr doch für ein klein wenig Aufsehen; vor allem auch, weil Tocotronics “Schall & Wahn” – eigentlich ein sicherer Siegerkandidat alteingeschworener Trainingsjackenträger – nominiert war. In diesem Jahr liegen die Fronten zwischen “Indie Mainstream” und klar elektronisch geprägtem Zeitgeist sogar noch klarer zutage: Nominiert sind die Aufsteiger des Jahres und Everybody’s Darlings BOY ebenso wie Teenage-Konsens-Rapper Casper. Aber – neben der souverän zwischen den Stühlen Singer/Songwriter und Electronica sitzenden Dillon und den herzhaft Dancefloor-klopfenden Modeselektor – eben auch jemand wie der alles andere als massentauglich agierende Zen-Houser Robag Wruhme.

Boy don’t cry. Sind aber garantiert nicht bei der Verleihung sondern auf Tour (Foto: Benedikt Schnermann).

Wirklich wichtig ist der Kritikerpreis bei Lichte besehen allerdings nicht. Außer einer kurzen und meist ungewohnten Präsenz im Galaambiente des Prime-Time-TV, der Erwähnung in den Annalen und der Erinnerung im nächsten Albuminfo bleibt nicht viel Zählbares zurück. Vor allem macht sich die Ehre in Plattenverkäufen kaum relevant bemerkbar. Bei Pantha Du Prince reichte es im Vorjahr kurz nach Verleihung zwar zu einem kurzzeitigen Einstieg in die iTunes-Top-Ten, das wars dann aber auch. Ob der Echo-Kritikerpreis zu mehr oder besser bezahlten Live-Gigs beiträgt, lässt sich nicht wirklich ermitteln. Er ist aber sicher zumindest ein vielleicht klitzekleiner aber funkelnder Baustein im mühsam zu errichtenden Bekanntheitsgrad- und Image-Gebäude eines Künstlers. Das ist ja auch schon viel heutzutage.

Augsburg

Der Echo 2012 wird am 22. März vergeben. motor.de wird bis dahin mit einem ECHO-Dossier einen genaueren Blick auf die Organisation, die Nominierten und Preise sowie die Modalitäten werfen – und auch gleich ein paar eigene Vorschläge für die “richtigen” Kategorien und Nominierten machen. Live-Lästern inklusive!

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The Winner Is … Grammys, Brits und Echo

Basiswissen Echo 2012