Kennt weder Sommerloch noch Krise der Musikindustrie – der Erlöser geht immer in der Popkultur.

Jeder in diesem Land, der in einer halbwegs bevölkerten Großstadt lebt, dürfte im Laufe seines Lebens um die Erfahrung eines Kirchentages kaum herumkommen. Dessen Teilnehmer sind bekanntermaßen allerorten und -zeiten dramatisch gut gelaunt, gemeinschaftlich sangesfreudig und aus popkritisch-ästhetischer Sicht natürlich eine grauenvolle Zumutung. Das indes haben sie mit – sagen wir mal – deutschen Turn- und Sportfesten oder Bundesversammlungen der Jungen Liberalen gemeinsam, das Phänomen scheint also weniger religionsimmanent als geschmäcklerischem Defizit zuzuordnen. Musik jedenfalls ist hier mehr Kitt fürs Zwischenmenschliche, eine Art Katalysator fürs gemeinschaftliche Eventpotenzial, als Mittel zur Zwiesprache mit dem Herrn oder gar der Bekehrung von zahlreich ansässigen, statistisch und logistisch bedingt meist gediegen urban sozialisierten Ungläubigen.


Wissen wie immer, worum es wirklich geht: Die Ärzte

Den Auftrag zur Bekehrung sehr ernst nehmen hingegen die Jesusfreaks, die am vergangenen Wochenende in der tiefsten norddeutschen Provinz ihr alljährliches „Freakstock Festival“ abhielten. Man muss wissen, dass die Jesusfreaks ihre Wurzeln in der Hamburger Punkszene der Achtziger haben, also von Natur aus eine gewisse Musikaffinität von sich behaupten, und sich seitdem wachsender Beliebtheit erfreuen, vor allem natürlich bei Menschen, die derlei immer noch wahnsinnig exotisch finden. Es gibt überdies inzwischen eine ganze Menge explizit christlich aufgestellter Rockbands, deren Mission allerdings schon daran scheitert, dass kein Mensch mit wenigstens rudimentär ausgeprägtem Geschmack ihr Tun irgendwie ernst zu nehmen vermag. (Wer übrigens die rare Gelegenheit hat, eines der uneingeschränkt empfehlenswerten Konzerte des Berliner Comiczeichners und Entertainers Fil zu erleben, sollte unbedingt nach „Christlicher Heavy Metal“ verlangen. Es wird unvergesslich!) Warum das so ist, kann man bei den Jesusfreaks stellvertretend nachlesen: „Ein Jesusfreak zu sein, ist keine Frage des Stils, sondern eine Frage des Herzens.“ So tickt Popkultur natürlich nicht.

Als eine Art Teufelszeug wird Rockmusik seit Anbeginn angesehen, keineswegs nur böswillig ist das gemeint, im Gegenteil, es ist sogar einer der quasioffiziellen Gründungsmythen, seit vor achtzig Jahren Jungspund Robert Johnson dem Teufel an einer staubigen Kreuzung in Mississippi seine Seele verschrieben haben soll, um ein berühmter Bluesgitarrist zu werden. Wie wir heute wissen, war das ein außerordentlich wirksamer Deal, auch im Diesseits weit über Johnsons Lebzeiten hinaus wirksam. Seitdem ist es – man möge den verlockenden Ausdruck nachsehen – ein Kreuz mit dem Christlichen in der Popmusik. Denn obwohl sie sich gern als am meisten vom Religiösen an sich emanzipierte Musikkultur begreift – ein Missverständnis, das die traditionalistische Gegenseite gern mitvollzieht – sind die Verwurzelungen tiefreichend. Das beginnt beim letztendlich übersichtlichen Füllstoff an besungenen Themen, denn praktisch jede denkbare zwischenmenschliche Geschichte wurde ja im Alten oder Neuen Testament schon mal grob vorskizziert.


Robert Johnson liegt unter diesem Grabstein – seine Seele wandelt sehr viel tiefer unten!

Die in Szene gesetzte Verlockung der fleischlichen Sünde – das Versprechen ungehemmter Wollust ist ein weiterer und der wohl stärkste Gründungsmythos nicht nur des – sic! – „Rock’n’Roll“ an sich sondern unzählige Male handfester Grund überhaupt eine Band zu gründen – setzt ja logischerweise voraus, dass man derlei überhaupt als Sünde begreift. Angemessen in einem engeren christlichen Sinne wird es, wenn der Künstler verdammt gut ist und sich mal eben die Seele aus dem Leib singt, was meist darauf hinausläuft, dass man eine Menge falsch gemacht hat im Leben und jetzt aber echt auf höchstinstanzliche Vergebung hofft. Gern als reputationswürdiges Alterswerk, wie bei Johnny Cash, der damit unsterblichen Ruhm und eine Menge junger sonst wenig inbrünstiger Fans verbuchen konnte. Den Trick versuchen seitdem immer mal wieder Sänger am Horizont der künstlerischen Bedeutsamkeit, jüngste Beispiele sind Tom Jones, der sich in allen Ehren aus der Affäre gezogen hat, oder Nina Hagen, deren Bekehrungsoffenbarungen uns besser erspart geblieben wären.


Rund DMC: New School, Adidas – und immer unten mit dem Herrn!

Oder man lässt die Reue weg und verlegt sich direkt auf die Ode an den Herrn. So kommt – Einer geht noch! – schnell in Teufels Küche, wer sich auch als beinharter Atheist seine Lieblingssongs vergegenwärtigt. In jeder anständigen Liste steht dann natürlich ein George Harrisons „My Sweet Lord“, dessen ebenso radikal esoterischer wie textlich reduzierter Grundansatz am Verstand des Künstlers zweifeln ließe – wenn es denn nicht trotzdem oder gerade deshalb um eine Art Überwerk handeln würde, das beweist, warum es nur eine Antwort auf die Frage „Paul oder George?“ geben kann. Bemerkenswert in dem Zusammenhang ist natürlich auch die Lennon’sche „I don’t believe“-Attitude im prägnant benannten „God“, auch eine Distanzierung ist immerhin eine Stellungnahme. „Any motion is pro-motion“, könnte man aus klerikaler Marketingsicht dazu sagen. Dass ausgerechnet „My Sweet Lord“ allerdings der wohl größte Plagiatsfall der Popgeschichte ist, macht es aus theologischer Sicht wiederum auch nicht gerade unproblematisch.


“And I said, ‘Hello, Satan’, I believe it’s time to go.”

Dass die Situation komplex ist und nichts, wie es scheint, durften nicht zuletzt eingefleischte Metaller wieder hinzulernen: Die hatten schwer zu schlucken als ihnen anlässlich des kürzlichen Ablebens von Ronnie James Dio in Erinnerung gerufen wurde, dass ihr geliebtes von Dio in die Szene eingeführtes Teufelshorn – die Faust mit augestrecktem Zeige- und kleinem Finger – eigentlich sehr wenig „evil“, dafür aber ein segnendes Schutzzeichen seiner geliebten italienischen Großmutter war. „Die Wege des Herrn sind unergründlich“, geht angesichts dessen denn auch dem Ungläubigen leicht von den Lippen. Grund genug allemal, sich gleich nochmal die Nummer eins aller „Hallelujah“ aufzulegen, wahlweise im trocken-abgeklärt-hymnischen Original von Leonard Cohen oder in der aus Funk und Fernsehen bekannten teeniegerecht verzweifelten Version von Jeff Buckley, möge er in Frieden ruhen. Wer es dagegen auf zeitgenössische Art mit Robert Johnson halten will, sollte sich die wundervoll rumpelnde Version von „Me And The Devil“ auf dem diesjährigen „Comeback“-Album des Ghettofunklautsprechers Gil Scott-Heron anhören. Hello, Satan!

Augsburg