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Jahresrückblick 2010 – Vol. 2

Juli 2010

Mit dem Sieg von Spanien im Südafrika-Finale verstummen endlich die Tröten in Deutschland, das den dritten WM-Platz einfährt, während im Siegerland der erste Fußball-Weltmeisterschafts-Sieg überhaupt gefeiert wird. Olé! Ole von Beust gibt indes in der Hansestadt Hamburg überraschend seinen Rücktritt als erster Bürgermeister bekannt. In Sachen Bürger-Informationsfreiheitsbegehren schlägt derweil die Internet-Plattform WikiLeaks mit der Veröffentlichung von über 75.000 als geheimen Militär-Dokumenten zum Afghanistankrieg erstmals in diesem Jahr mehr als nur publizistische Wellen. Da bleibt der Tod des amerikanischen Comic-Pioniers Harvey Pekar, der mit seinen Erzählungen über persönliche Alltagserlebnisse in den Sechzigern ein neues Grafik-Geschichten-Genre geschaffen hatte, nur eine Randnotiz in Gedenk- und Gedankenblasenform. Gedacht wird auch der 21 Toten, die bei der 19. Loveparade in Duisburg im Gedränge einer Massenpanik mit über 500 weiteren Verletzen zu beklagen sind und das Ende der Techno-Groß-Veranstaltung besiegeln. Gut, dass bei soviel Unheil wenigstens noch Kylie Minogue mit ihrem Album “Aphrodite” nach dreijähriger Pause wieder etwas positive Tanzflächen-Liebe unter die Menschheit bringen kann. Auch die New-Wave-Pioniere Devo sind mit neuer Platte zurück, können damit jedoch nur bedingt punkten. Wesentlich besser schneiden im Vergleich dazu die Frickel-Indierocker Menomena mit ihrem Album “Mines” ab. Im Kino geht es dann auch wieder extrem zwielichtig zu. Mit “Eclipse – Bis(s) zum Abendrot” kommt ein weiterer Streifen der keuschen bis zahnlosen Kinder-Vampirsaga auf die Leinwand und begeistert sein pubertierendes Publikum. Regie-Genie Christopher “Memento” Nolan schafft es nach Batman-Erfolgen hingegen erneut mit “Inception” und traumhaftem Esprit, das erwachsene wie intelligente Action-Mainstream-Kino auf eine neue Erlebnis-Ebene zu hieven.

August 2010

Schwein gehabt – auch wenn sich keiner mehr so richtig daran erinnert, erklärt die Weltgesundheitsorganisation die Schweinegrippe-Pandemie offiziell für beendet. Während in Bayern nunmehr das strengste bundesdeutsche Rauchverbot in Kraft tritt, erliegt Christoph Schlingensief hingegen dem Teufel Lungenkrebs. Der Autor, Aktionskünstler und Regisseur und mit Sicherheit einer der schillerndsten Persönlichkeiten und Kunstschaffenden Figuren der deutschen Nachkriegs-Zeit wird für seine Kultur-Verdienste im November posthum mit dem Bambi geehrt werden. Von Kondolenz-Überschwemmungen zu naturkatastrophalen: Sowohl in Pakistan, als auch an der Lausitzer Neiße, in Sachsen, Polen und Tschechien kommt es zu schweren Überschwemmungen und Evakuationen im großen Maße. Im Irak auf Seiten der US-Truppen ein ähnliches Bild: Hier verlassen sieben Jahre nach der Invasion die letzten US-Truppen endgültig (?) das Land. “Happiness” verbreiten in der Popwelt unterdessen ein britisches Synthie-Pop-Duo aus Manchester, das im Zuge der neuen New Wave bereits als die nächsten Depeche Mode gehandelt werden. Hurts nennen sich die beiden Herren und lassen damit bislang nur mutmaßen, ob sich Hape Kerkeling im Zuge des Recyclings auch an eine modifizierte Neuauflage seines Klassikers traut. Die Weltpolitik gibt sich ungeachtet dessen unerbittlich bestimmt. Das SWIFT-Abkommen ermöglicht US-amerikanischen Terrorfahndern Einsicht in EU-Konten und China beweist, dass der sprichwörtliche umgefallene Sack Reis doch globale Konsequenzen haben kann. Die Glückskeks-Volksrepublik steigt nämlich vor Japan auf Platz zwei der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Ach ja und “Deutschland schafft sich ab”. Zumindest wenn man den Worten von Thilo Sarrazins so genanntem Buch Glauben schenkt, die den September in heißer Diskussions-Hinsicht bestimmen werden.

September 2010

Die Publikation des ehemaligen Berlin-Senators Sarrazin birgt genügend innenpolitischen Sprengstoff für eine andauernde Debatte zur Ausländer-Integration. Thilos taffe Thesen – vielleicht sogar der bessere Buchtitel für den vornehmlich ebenso boulevardesk geführten Dilemma-Diskurs – sorgen zumindest dafür, dass jeder intellektuelle Fußgänger die integrative Legitimität der nächsten Döner-Bude hinterfragt und um Moscheen einen noch weiteren kritischen Bogen macht. Während besagtes Buch sich somit zum Bestseller mausert, verlässt Sarrazin seinen in die Kritik geratenen Mitgliedsitz im Vorstand der Deutschen Bundesbank noch mit zusätzlichem Pensionsgehalt. Provokativ formulierte und kalkulierte Stammtisch-Brisans zahlt sich scheinbar immer noch erschreckend lukrativ aus. Die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre durch die Bundesregierung hingegen hätte vielleicht etwas mehr Zückerchen-Volksverdummungs-Verpackung vertragen können. Demonstrationen in Berlin mit über 100.000 Atomkraftgegnern strafen jene Energiepolitik nämlich ab. Dagegen wirkt diese Meldung fast wie eine frohe Botschaft aus der Bio-Laden-Ecke: Fünf Monate nach dem Untergang der Bohrplattform Deepwater Horizon verschließt der Ölkonzern BP erfolgreich die defekte Ölquelle. Weniger erfreuliche Mitteilungen gibt es hingegen aus der Kinowelt-Depesche: Mit Tony Curtis verstirbt ein weiterer Star aus Hollywood-Glanzzeiten. Dazu verlieren in Claude Chabrol (“Der Schlachter”) sowohl die französische Nouvelle Vague als auch in Arthur Penn (“Bonnie und Clyde”) das New Hollywood-Kino zwei Lichtgestalten. Erhellend unterhaltsam indes ist die künstlerische Synergie zwischen dem amerikanischen Sänger/Songwriter Ben Folds und dem britischen Pop-Schriftsteller Nick Hornby, die auf dem Album “Lonely Avenue” erstmals ihre musikalisch-textlichen Talente fusionieren lassen.

Oktober 2010

Popkulturelles Novum Nummer Eins in diesem Monat dürfte David Finchers Facebook-FilmThe Social Network” über die Erfolgsgeschichte von Erfinder Mark Zuckerberg sein, denn die analogen Digital-Siegeszug-Verfilmungen von Myspace und studiVZ sind entweder noch nicht angedacht oder bis dato abgedreht. All zu viele Freunde macht sich Fincher mit seiner Version der virtuellen Wahrheit allerdings nicht, rechnet man mal die affirmativen Daumen 2.0 hoch. Weit spektakulärer gestaltet sich inzwischen der zweite WikiLeaks-Streich. Um die 400.000 geheime Dokumente der US-Streitkräfte zum Irakkrieg gelangen über die Plattform an die interessierte Öffentlichkeit. Neue Territorien werden auch im Gebiet der angewandten Forschungs-Biologie erschlossen, als in Atlanta, Georgia erstmals im Rahmen der Stammzellforschung ein Mensch mit embryonalen Stammzellen in einem Krankenhaus behandelt wird. Symbiotisch geht es beim Projekt Stuttgart 21 keinesfalls zu. Nachdem Ende September bereits mehrere tausend Menschen gegen die Bahn-Bauvorbereitenden Maßnahmen demonstrierten und bis zu 400 Menschen dabei durch den polizeilichen Gegenwehr-Einsatz verletzt wurden, findet im Oktober die bislang größte Demonstration gegen das Projekt statt. Heiner Geißler beginnt daraufhin die – im wahrsten Wortsinne intendierte – Moderation medial übertragene Schlichtungsgespräche zwischen Befürworter-Vertretern und deren Gegnern. Bisherige Verhandlungs-Endstation: Das Projekt Stuttgart 21 PLUS mit diversen Modifikationen des kritisierten Bauvorhabens. Platte des Monats und Kandidat für die obersten Plätze der Jahres Top 3 ist auf ganz anders reduzierter Ebene jedenfalls “Come Around Sundown” von den Kings Of Leon.

November 2010

Weltgeschehen 2.0 und kein Ende. Die Einführung des elektronischen Personalausweises in Deutschland stimmt nicht nur den Chaos Computer Club skeptisch. Der gläserne Mensch ist weiterhin auf dem Vormarsch. Das gläserne Weltbild indes nicht minder. WikiLeaks gerät erneut in die aktivistischen Schlagzeilen, diesmal mit einer Sammlung von über 250.000 – darunter etliche als geheim klassifizierte – diplomatische Depeschen US-amerikanischer Botschaften, die delikate Beobachtungs-Details zu Außenwirkungs-Profilen auch bundesdeutscher Politiker offenbaren. Wie die US-Diplomatie unsere politischen Abgesandten unverblümt einschätzt, birgt zwar wenig neue Erkenntnis gegenüber der gefühlten Eigensicht, entlarvt aber das global politische Parkett als nichts anderes, als die Makrokosmos-Version allzu menschlicher Lästereien. Ganz neue Erkenntnisse also. In dieser Form der unintendierten Veröffentlichung dafür aber durchaus revolutionär. Apropos revolutionär: Mit Protesten in Gorleben demonstrieren im Wendland weiterhin zehntausende Atomkraftgegner gegen den Castor-Transport mit Atommüll und die Energiepolitik der Bundesregierung. Eine eherner, aber nahezu aussichtsloser Kampf. Dagegen nimmt die Popwelt die “Nimm das!”-Maxime des clever “Progress” betitelten neuen Albums der reformierten und durch Mitglied Robbie Williams auch kritisch rehabilitierten einstigen Boygroup Take That gerne entgegen. Trauer derweil wieder bei den Film-Fans: Mit Irvin Kershner stirbt der Regisseur, der mit “Das Imperium schlägt zurück” George Lucas gezeigt hat, dass man auch einen richtig guten Star Wars-Film drehen kann. Und “Nackte Kanone”-Gesicht Leslie Nielsens Ableben ruft in Erinnerung, dass Komödien auch mal albern am laufenden Band wirklich lustige Gag-Feuerwerke sein konnten.

Dezember 2010

Mit Tiefst-Temperaturen und Schneegestöber endet 2010 wie es begonnen hat – extrem kalt und ungemütlich. Und wieder WikiLeaks. Julian Assange, politischer Aktivist und Sprecher der Plattform, stellt sich nach erneutem Vorwürfen wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung durch die schwedische Staatsanwaltschaft und dem nachfolgend durch Interpol international wirkenden Haftbefehls in London der Polizei und ist derzeit auf Kaution mit elektronischer Fußfessel auf quasi-freiem selbigen. Ein moderner Freiheitsrechtler, der Böses Spiel dabei denkt. Derweil werden auch Spendenmöglichkeiten der digitalen Art an WikiLeaks von Kredit- und Internet-Bezahldiensten entsprechend gesperrt. Versuche das Netz komplett mundtot zu machen, scheitern allerdings an der offenen wie weitläufigen Struktur des Mediums Internet per se. Nicht von ungefähr wählt unterdessen die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort “Wutbürger” zum Wort des Jahres, und das noch vor “Stuttgart 21” und “Sarrazin-Gen”. Okay, letztere beiden Sprachkonstrukte sind ja genau genommen auch nicht wirklich ein Wort. Mag das Jahr auch in den letzten Zügen liegen, reißt die Verlustwelle großer Kunstschaffender leider nicht ab. Zunächst raffte es Komödien-Profi-Regisseur Blake Edwards (“Frühstück bei Tiffany”, “Der rosarote Panther”) dahin, dann auch noch mit Captain Beefheart nach Frank Zappa die zweite Galionsfigur des experimentellen Rocks. Das genaue Gegenteil dominiert derweil auch wieder die heimischen Charts. In der schnieken Winteredition von “Große Freiheit” schneien Unheilig ganz unverhofft wieder auf Platz Eins der deutschen Albumcharts rein. Gibt es etwas passenderes zum weihnachtlichen Fest der Liebe?

Frank Thiessies

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