Jochen Distelmeyer – ein Synonym für den Kopf des Pop. Der Kopf, der Poesie aufs Blatt bringt. Der Kopf, der so unerreichbar und anmutig erscheint. Einfach heavy.
Reisen wir zu Anfang erst mal in die Vergangenheit. 1990 – ein Jahr nach dem Mauerfall. Andere Perspektiven, andere Sichtweisen, eine andere Welt. Nicht nur politisch gibt es einen Umschwung, auch in der Musik hört man neue, revolutionierende Töne. Es gründet sich eine Band in Hamburg, die sich Blumfeld nennt und den Deutschen Pop der 90er sowie die Hamburger Schule beeinflusst und prägt. Sie entpuppen sich als Ausnahmekünstler – Mitte Zwanzigjährige, die nicht über ein „neues, deutsches Selbstbewusstsein“ verfügen, sondern Kritik äußern und über die angepasste Gesellschaft singen. “Ich seh’ die Leute in den Straßen/Die Diktatur der Angepassten/In den Städten und den Dörfern/Leben sie und ihre Lügen/Lügen, Lügen, Lügen” („Diktatur der Angepassten“) – Blumfelds Texte rezensieren die Welt um sie herum.
Kopf der Band Jochen Distelmeyer schreibt wahrhaftige Kunstwerke über das politische System und über die Liebe. Es ist zudem auch die mutige Haltung, die die Hamburger Band vertritt und somit viele Leute beeindruckt. Sie stellt sich dem Leben und den Problemen, bekämpft den weit verbreiteten Eskapismus im Pop. Blumfeld etablieren sich (nicht nur) in der intellektuellen Szene, sehen sich aber selbst nicht als eine akademisch verkopfte Gruppe.
Blumfeld – Tausend Tränen tief
Während die philosophischen Musiker Erfolge feiern, Pop-Symposien entstehen, in denen sich über Blumfeld-Texte unterhalten sowie Kolloquien, in denen Distelmeyer gerne zitiert wird, und seine Mitmusiker als „Diskursrocker“ bezeichnet werden, wechseln Schlagzeuger und Bassisten, wodurch sich der anfängliche Rockstil eher zum Pop entwickelt. Ende der 90er bringen sie die umstrittene Platte „Old Nobody“ heraus – wer glaubte, weitere Kritik an der Politik zu hören, wurde mit dem Motiv ‘Liebe’ überrascht. Voller Poesie. Voller Distelmeyer-Empfinden – allen voran der Hit “Tausend Tränen tief”.
Unkonventionell, nonkonformistisch – Distelmeyer und seine Band überraschen in den 90ern mit ihrer Kreativität, sind aber eigentlich auf der Suche nach Selbstentwicklung. Mit Zeilen wie: “Ein Lied mehr ist eine Tür/Ich frag mich bloß wofür/Denn das, was dahinter liegt, scheint keinen Deut besser als das hier” („Ghettowelt“) und “Wo kommen all die grauen Wolken her?/Die ganze Welt dreht sich im Kreis/Ich seh’ mich um und will nicht mehr/Wo ist die rote Sonne hin?/Arbeit, Fernsehen, Schlafengehen/So macht das Leben keinen Sinn” („Graue Wolken“) baut Jochen Distelmeyer dem deutschsprachigen Pop ein neues Fundament.
„Ich habe keine Revoluzzer-Attitüde und ich glaube, die hatte ich auch nie. Für mich hat Songwriting und Singen viel damit zu tun, dass man über das, was einem wichtig ist und einen umgibt singt. Dass man sich dazu äußert“, sagt Jochen Distelmeyer im Interview.
Auf jeden Fall sind Blumfeld, in deren Windschatten auch Bands wie Toctronic oder Die Sterne folgen, zu dieser Zeit aus der Popkultur nicht mehr wegzudenken. Sie dringen mit philosophischen Zeilen in die Köpfe ein und regen das Nachdenken ihrer Hörer an – obgleich nicht ohne zu polarisieren. Nachdem sie mit „Diktatur der Angepassten“, „Graue Wolken“ und dem großartigen Song “Verstärker” sowie ihrem Debut „Ghettowelt“ den Pop ganz neu entstehen ließen, und den wohl größten Einfluss auf die deutsche Pop-Landschaft hatten, trennen sie sich 2007. Kurz trauert man und glaubt, ganz naiv, das sei nun das Ende der Musikpoetik. Aber Kenner Blumfelds wissen auch, dass Jochen Distelmeyer ohne die Musik nicht weiterleben kann.
Jochen Distelmeyer – Wohin mit dem Hass?
17 Jahre deutsche Musikgeschichte schreiben und dann neue Wege einschlagen – blickt man da nicht auch etwas wehmütig auf diesen Abschnitt zurück?
„Nein. Ich schaue nach vorne, trauere der Zeit nicht nach. Es war eine wundervolle Zeit mit Blumfeld. Bedeutend, wichtig und prägend. Eine Zeit, in der ich machen konnte, was mir sehr wichtig war. Die Art, wie wir quasi so voneinander und von Blumfeld Abschied genommen haben, das so transparent wie möglich gemacht haben, war gut für mich. Einfach loslassen zu können.“
Der Mann mit dem Sympathie-Appeal und der heroisch-dylanesken Art braucht Musik also als Lebenselixier. Und so bleibt es auch nicht lange ruhig um den Dichter der deutschsprachigen Popmusik. Damals noch beeinflusst von Bernd Begemann und Michael Girke, findet er irgendwann seinen eigenen Weg, und nun, im Jahr 2009, scheint er, angekommen zu sein.
Mit dem Solo-Debüt „Heavy“ versucht unser Pop-Oberhaupt keine Neuerfindung, das hatten wir auch nicht wirklich erwartet, Distelmeyer singt weiter Lieder über die Liebe und wirft Fragen auf („Wohin mit dem Hass?“). Weniger düster, weniger politisch lotet er seinen Platz im aktuellen Pop-Geschehen aus. Dabei trennen ihn nach wie vor Welten von Silbermond, Virginia Jetzt! oder Peter Maffay. Ein Fakt, den Distelmeyer selbst eher bescheiden von sich weist:
„Die Leute glauben zu wissen, dass ich anders bin. Ich sehe mich aber als Teil. Auf unserer Box, die wir veröffentlicht haben, gebrauche ich das Zitat von Georg Kreisler, der sagt: ‘Man muss wissen, man ist ganz so wie die anderen. Nur, dass die anderen das gerade nicht wissen wollen.’“
Wider der intellektuellen und poetischen Leistung, für die ihm viele danken möchten, rückt sich Distelmeyer lieber in ein anderes Licht: „Ich sehe mich einfach als Musiker. Ich hoffe, dass die Leute Gefallen an dem finden, was ich mache. Ich bin Musiker und Entertainer.“
Jochen Distelmeyer ist zu einem Genius in seinem Job geworden und man hört dem Genius auch 2009 gerne zu, lässt jedes Lied auf sich wirken, spürt hier und da eine Verbindung und sagt: “Ja, Jochen Distelmeyer hat immer noch einen Platz im Pop.”
Text & Interview: Franzi Finkenstein
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