Bist Du schon mal gefragt worden, was der Moment war, an dem Du gemerkt hast, dass Du links bist? Mir ist das erst vorgestern geschehen. Die Frage stellte eine Reporterin, die offenbar an einer Story über die neue Linke arbeitet. Ich war ratlos und konnte nur mit einer Gegenfrage antworten: Was genau ist heutzutage links?

20 Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus setzt der real existierende Kapitalismus an, es ihm gleich zu tun. Wenn man darüber nicht nur traurig ist, dann hat das vielleicht etwas mit „links“ zu tun, oder eben mit eigenen Schlüsselerlebnissen. Wenn ein kleiner Laden einen großen kauft, dann geht das nur mit Krediten. Als die Seagramtochter Universal nach dem Weltmarktführer PolyGram schnappte um ihn sich einzuverleiben, war das auch nur mit Hilfe Dritter möglich. Diese Dritten geben Kapital für einen Wert, der sich erst durch die Aktienentwicklung nach Aufkauf ergeben kann.
Die angenommenen Kurssteigerungen beruhen auf so genannten Saving Potentials. Natürlich ergeben sich Einsparungen, wenn zwei Firmen, die im Kern dasselbe machen, zusammen gehen. Zum Beispiel braucht man keinen doppelten Vertrieb und auch in der Administration lassen sich einzelne Prozesse problemlos zusammenlegen. Die Potentiale, die die Berater vor dem Kauf errechnen, gehen aber weit darüber hinaus.

Für jede Akquisition gibt es einen so genannten Purchase Account. Hierin sammelt man die vereinigungsbedingten Kosten. Da man beim Kauf nicht alle Risiken vorher abschätzen kann, Geschäftstätigkeit aber befördert und nicht behindert werden soll, muss man diesen Posten in der Bilanz nicht aktivieren, sondern konnte ihn bis vor Kurzem über 40 Jahre abschreiben.
Die quietschvergnügten Jungs von Boston Consulting Group hatten verstanden, was das bedeutet. Jeder Mitarbeiter, den man rausschmeißt, jeder Künstler, den man seinen Vorschuss auszahlt, dessen Platte aber in Folge nicht veröffentlicht, steigert den Wert des Unternehmens. Für die Abfindungen und Ausgleichzahlungen – so die frisch von der Uni kommenden Berater begeistert – gäbe es schließlich den billanzneutralen Purchase Account.

Nicht nur, dass das sozial völlig unverträglich ist und war, volkswirtschaftlich ist es fatal. Mit Kapital, das der Wirtschaft als Cashflow entzogen wird, werden also Substanz (Künstler, Mitarbeiter und das von ihnen geschaffene Werk oder Know How) vernichtet, um einen fiktiven Börsenwert zu treiben. Das Unternehmen sollte also an Wert gewinnen, weil es an Inhalt und Wissen verlor.
Das war schon damals pervertiert und eine Blase. Aber diese Blase blubbert immer noch. Eine Logik wie diese ist die Grundlage, auf der Hedgefonds Firmen wie Warner und EMI gekauft haben. Jetzt wo der ganze Schwindel des Spekulantenkapitalismus auffliegt, fragt sich, was aus ihnen wird. Die Geschäftsgrundlage ihrer Besitzer ist verschwunden wie die Milliarden der Anleger, die ihnen Geld für ihr Tun borgten.

Ja, wenn links heißt, dass man merkt, dass sozial unverträgliches Handeln nicht Grundlage eines Wirtschaftsmodells sein kann, dass es ein großer Fehler ist (und war), sich auf Prozesse einzulassen, die den eigenen Vorstellungen von Moral und Logik nicht entsprechen, dann war das der Moment an dem ich merkte, dass ich „links“ bin.

Euere Tim