Hurrah, lasst die Korken knallen und uns alle feiern: Seit Beginn der Finanzkrise sind die neunziger Jahre endlich, endlich vorbei! Der Fehler war: wir haben uns alle fast neun Jahre zu früh gefreut. Wir dachten zum letzten Mal auf die Neunziger reingefallen zu sein, damals als wir Sylvester auf den Dächern standen und darauf warteten, dass überall die Lichter ausgehen. Millenium Bug, erinnert sich noch einer? Es wurde ein Scheiß erzählt, die Sache hatte wieder mal weder Hand noch Fuß, die IT Branche bereicherte sich auf Basis eines Gerüchts schamlos – und niemand nahm’s ihr krumm.

So waren sie halt die Neunziger Jahre. Es zählte nicht der Inhalt oder die Substanz, wichtig war die Zahl. Nach den moralischen Siebzigern und den hedonistischen Achtzigern folgten die neureichen, erfolgsversessenen Neunziger. Anders als zuvor war dieser Erfolg aber nicht Grundlage von Verantwortung oder Genuss, sondern reine Basis von Macht und dem Streben nach noch mehr Erfolg. Firmen wie Merrill Lynch, Boston Consulting oder Permira, von denen man zuvor noch nie etwas gehört hatte, gaben plötzlich den „Master of the Universe“. Ihre jungen Mitarbeiter bevölkerten die Business Class, gebeugt über Zahlen, Tunnelblick, den Schweiß der Drogen der letzten, durchgearbeiteten Nacht auf der Stirn.

Kein schöner Anblick, aber sie verdienten teilweise Millionen. Geschaffen haben sie dafür im Sinne der Volkswirtschaft rein gar nichts. Es ging darum, als Berater Unternehmen Vorwände für Budgetkürzungen und somit meist auch Stellenstreichungen zu geben; als Investmentbanker Unternehmenswerte künstlich hochzutreiben und die Blase einem Dritten überzuhelfen bevor sie platzt; oder als Venture Capital Firma das Eigenkapital wegzusaugen und die Reste der Opfer in Einzelteile zu zerlegen und zu verkaufen. Das klingt nach Krieg. Es war auch einer. Die Generäle, Offiziere, Hauptleute und Leutnants der entfesselten, freien Wirtschaftskräfte haben das produziert was Armeen immer produzieren wenn man sie ungebremst machen lässt: Leid und Zerstörung.

Natürlich ist diese Darstellung furchtbar vereinfacht, natürlich ist und war nicht jeder Unternehmensberater, Investmentbanker, Venture Capitalist völlig verantwortungslos. Dieselbe Einschränkung gilt aber auch mit selbem Fug und Recht für die gehobenen Dienstgrade der deutschen Armee der letzten, beiden Weltkriege. Helmut Schmidt war zum Beispiel als Oberleutnant mit dabei, Offizier Graf von Stauffenberg wird in Hollywoodfilmen als Held verewigt. Die positiven Ausnahmen können niemals die historische Bewertung des Tuns der Reichswehr während ihrer Angriffskriege korrigieren. Wer andere überfällt und ihre Infrastruktur zerstört, muss sich Vereinfachungen gefallen lassen.

Findet der Krieg nicht im eigenen Lande statt, wird das Ausmaß seiner Zerstörung erst deutlich wenn er zu Ende ist. Das verhält sich mit den Neunziger nicht anders. Die Folgen ließen sich in Form zerstörter Landstriche und Sklavenarbeit in den Schwellenländern vorher ablesen, in der Heimat werden sie aber erst wahrgenommen, wenn es mit der Versorgung hapert und Divisionen von Arbeitslosen die Strassen bevölkern. Die eigentlichen Täter arbeiten derweil an ihren „Dolchstoss-Legenden“, schieben wie üblich der Politik die Schuld in die Schuhe und träumen von ihrer eignen Hindenburg Karriere.

Die Neunziger sind vorbei, doch das neue Jahrtausend noch nicht da. Jetzt müssen wir erstmal aufräumen und dann neue Werte jenseits von Castingshows, Sharholder Value und Abschreibungsmodellen schaffen. Die Gesellschaft füllt das Vakuum im Reflex mit Menschen aus Zeiten, lange vor dem neoliberalen Burnout der Neunziger. Lindenberg, Westernhagen und Grönemeyer, die Helden der Siebziger sind mit einem Mal und zeitgleich in den Top 10. Mit Selig setzt eine Schlüsselband der Neunziger, die an und in ihrem Jahrzehnt scheiterte, plötzlich wieder zum Sprung an, PeterLicht nach einem Hit sträflicherweise fast vergessen, steht vor ausverkauften Häusern wenn er „bye, bye Wohlfahrtsstaat“ singt. Die Neunziger sind vorbei, jetzt ist Nachkriegszeit.

Es grüßt euer Tim