Für Boys Noize würde Channy Leanagh gerne mal den Support-Act geben. Das hätten wir der grazilen Dame so nicht zugetraut. Im Interview sprach die Amerikanerin von Poliça über Call-And-Response, das Künstlerkollektiv Gayngs und natürlich über Autotune. 

(Fotos: Cameron Wittig)

Channy Leaneagh hat ein Kind zur Welt gebracht. Es ist nicht mal ein Jahr alt, doch in ihrer Heimat ist schon ein kleiner Hype über die junge “Mutter” hineingebrochen – kein Wunder, wenn Bon Iver und Jay-Z das Neugeborene in den Himmel loben. “Dieses Projekt habe ich als Geburt angesehen. Zusammen als Band wollten wir ein Kind erschaffen, das uns gehört, das einen richtigen Namen hat”, sagt die zierliche Dame, die den Beschützerinstinkt in einem weckt. “Give You The Ghost” ist – um im Bild zu bleiben – der kleine Songkindergarten des Quartetts. Ein bärenstarkes Debüt zwischen R’n’B und (Dub-)Electronica. 

Gerade erst aus dem Bus gestiegen, findet sich die Sängerin im Michelberger Hotel in Berlin-Friedrichshain wieder und sitzt mit einer faszinierenden Mischung aus stoischer Ruhe und kontrollierter Besonnenheit vor uns. Später am Abend wird sie im Magnet Club den ersten Auftritt mit ihrer Band (ausgesprochen: Po-Lisa) feiern – ein großartiges Konzert, dass das Berliner Publikum mit reichlich Endorphinen zurücklässt.

“Poliça sollte keine anderen Assoziationen liefern, er sollte einzigartig sein. Auf der einen Seite klingt der Name rau und scharf, wie Politik oder Polizei. Auf der anderen Seite transportiert er die smoothe Qualität unserer Musik” – smooth bedeutet hier konkret: eine Hall-, Reverb- und Autotune-manipulierte Stimme, ein schmollender Bass und zwei treibende Schlagzeuger. Keine Gitarre, kein Folk. motor.de sprach mit Channy über ihre Rebellion gegen den klassichen Folk, das Künsterkollektiv Gayngs und Call-And-Response.

motor.de: Du bist gerade erst in Berlin angekommen, richtig? Und nun wirst du auch gleich in das erste Interview gesteckt. Vor einem Jahr sicherlich undenkbar, diese Hektik, oder? Dein erster Gedanke, wenn du die letzte Zeit reflektierst?

Channy Leaneagh: Dankbar, ich bin wirklich dankbar. Aber auch irritiert, plötzlich wollen Leute meine Meinung…(überlegt, bricht ab)…weißt du, ich mache schon lange Musik, aber und nun wollen Leute meine Meinung zu gewissen Dingen hören.

motor.de: Und eine kleine Armada an journalistischen Schelmen will auch noch über Musik reden…

Channy Leaneagh: (lacht) Genau, dabei bin ich gar kein Musikexperte, ich mache nur Musik. Ich habe nicht den großen Einblick und stecke nicht überall drin.

motor.de: Willst du dich also auch nicht festlegen oder selbst einordnen, sprich: Stellst du dir selbst die Frage, was im Inneren dominiert: die Sängerin, die Musikerin oder das Bandmitglied?

Channy Leaneagh: Ja, manchmal schon. Diese ganzen Interviews reflektieren ja auch, wie schnell sich alles verändert hat, alles passiert sehr rasant. Dabei bin ich eigentlich alt, als Musikerin jedoch noch relativ jung.

motor.de: Naja, du bist aber auch kein Teenager mehr.

Channy Leaneagh: Nein, stimmt (lacht). Bei Roma Di Luna lernte ich das Singen und wurde später in die Rolle der Frontsängerin gedrängt. Es war eine sehr stoische Arbeit, die ich aber trotzdem schätze. Bei Gayngs konnte ich viel Erfahrung sammeln. Als Back-Up-Sängerin war ich schon wichtig, aber ich war halt auch da, um das Mädchen zu sein. Die hohe Aufmerksamkeit ist dennoch nicht neu, deswegen reagiere ich auf die Fragen nach meiner Philosophie oder Ansichten relativ distanziert, mit einer weisen Distanz.

Poliça – “Wandering Star”


motor.de: Diese Distanz wird auch in der Musik deutlich, du arbeitest viel mit deiner Stimme und ihrer Manipulation. Alte Debatte, aber es gibt einige, die Autotune als Enthumanisierung abtun oder diffamieren. Du benutzt Autotune, warum?

Channy Leaneagh: Ich benutze ja nicht nur Autotune, sondern mehrere Effekte. Das habe ich bei Gayngs bereits gemacht, nur wurden hier die Einstellungen und Modifikationen von den Produzenten festgelegt. Mit Poliça gehe ich nun meine ersten Schritte und erkunde die Vokal-Prozessoren auf eigene Faust.

motor.de: Bemerkenswert, weil du eher im klassisch amerikanischen Background zu Hause bist.

Channy Leaneagh: Aus dem amerikanischen Roots-Folk-Bereich kommend, ist die Band eine Möglichkeit für mich, meine Identität anzulegen, sie sogar zu wechseln. Das reizt mich.

motor.de: Als würde man in eine neue Stadt ziehen, dort aber noch keine Freunde haben. Es ermöglicht dir, ein neues Gesicht zu zeigen, ein neues Ich. Einerseits ein Neuanfang, aber in gewisser Hinsicht auch eine Art Flucht?

Channy Leaneagh: Vollkommen richtig. Dieses Flüchten und Ausströmen ist in einer Stadt wie Minneapolis auch möglich, weil sie eine große und tolle Musikszene hat. Hier arbeiten die Unterschiedlichsten miteinander zusammen – ob Rock und Folk, Rap oder Noise. Produzent Ryan Olson hat mich in die elektronische Stadt geholt, in der ich viele neue Möglichkeiten kennenlernte und die dortige Musikszene. Zuerst habe ich mit klassischer Musik angefangen, um danach klassische Rootsmusik zu studieren, wie auf einer Kuntschule lernte ich Bob Dylan, The Carter Family, Alan Lomax – traditionelle Musik – kennen. Poliça ist eine Art Rebellion dagegen.  

motor.de: Klingt ja fast nach einem ‘Punkalbum’ – “Give You The Ghost” als das eigene künstlerische Freimachen, die Revolte?

Channy Leaneagh: Ich liebe immer noch Folkmusik (lacht), aber nun kann ich experimentieren und endlich alte Gewohnheiten ablegen, ja.

motor.de: Diese Identität bildete sich auf dem Debüt beinahe unterbewusst. Gemeinsam mit Produzent Olson kam die Produktion in Call-And-Response-Manier zustande.

Channy Leaneagh: Ja, ich habe auf die Beats von Ryan geantwortet. Er ist ein sehr toller Kopf. Er raucht im Studio zwar zuviel Zigaretten, aber der Umgang und unsere Chemie ist stark von Respekt geprägt. Für den Großteil der Songs habe ich die Melodien und Texte instinktiv geschrieben, aus dem Bauch heraus, sehr direkt. Es ist vielleicht nicht mein bestes Songwriting, aber auch jeden Fall das Rohste.

motor.de: Bei der intuitiven Arbeit fehlte also der rationale Filter. Auf mich wirkst du dagegen recht gestanden und beherrscht, angenehm in sich ruhend. Hast du Ambitionen?

Channy Leaneagh: Mit meinem früherem Projekt Roma Di Luna hatte ich das große Ziel, Europa zu sehen, das habe ich geschafft. Und nun bin wieder hier, das ist doch schon mal nicht schlecht für den Anfang.

Sebastian Weiß