Das Reeperbahn Festival 2012 schafft den Spagat: zwischen digital und analog, zwischen Parodie und Kunst, zwischen gestern und morgen, zwischen Überfülle und Erfüllung. Unser Festivalbericht – Teil 2.
“Reeperbahn – ich komm an, du geile Meile, auf die ich kann.” (Foto: ninazimmermann.com)
Man fühlt sich ein bisschen wie in einem Heiner-Müller-Text: “Ich stehe zwischen Männern die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl, mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. … Warum habe ich in der Schule nicht aufgepasst. Oder die falschen Bücher gelesen: Poesie statt Physik. Die Zeit ist aus den Fugen und irgendwo in der vierten oder in der zwanzigsten Etage (das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn) wartet in einem wahrscheinlich weitläufigen und mit einem schweren Teppich ausgelegten Raum …“, nun ja, nicht der Chef aber eine von 280 Bands des Reeperbahn Festivals. “Der Mann im Fahrstuhl” heißt das Stück, man kann den Mann (es sind genau genommen mehrere, die sich abwechseln) jeden Tag im unzerstörbaren Hochbunker am Heiligengeistfeld in St. Pauli treffen, wenn man zum Beispiel ins Uebel&Gefährlich will, einen der wichtigsten Hamburger Clubs. Den erreicht man am Besten im Fahrstuhl, drin stehen eine Box, betrieben von einer Autobatterie, und eben dieser immer etwas verpeilt wirkende junge Mann, der nichts anderes tut, als das Publikum in den vierten Stock und wieder herunter zu bringen und dabei immer neue Fahrstuhl-Musik herauszusuchen.
Ins Uebel&Gefährlich muss man öfter mal während dieses Reeperbahn Festivals oder auch eine Etage weiter, ins Terrace Hill. Hier ist man froh, wenn es ausnahmsweise mal nicht proppenvoll ist, dass jemand wie der Ex-Muff-Potter-Sänger Nagel dann doch nicht so spannend für Mehrheiten ist. Er hat sowieso keine Chance gegen den spektakulären Raucherbereich des Ladens, der ist nämlich auf der Terrasse und erlaubt einen wundervollen Blick auf das nächtliche Hamburg. Man kann nur leider nicht die ganze Nacht hier am Beton lehnen, weil immer irgendwo eine andere Band spielt, die man sich unbedingt anschauen muss. “Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit”, heißt es bei Heiner Müller und auch das passt ganz gut, weil der exakte Zeitplan der Dreh- und Angelpunkt dieses Festivals ist, bei dem man idealerweise von Auftritt zu Auftritt eilt. Ein Dutzend von ihnen kann man am Tag vielleicht schaffen, wenn man sich nicht all zu lange aufhält. Wenn man jeden Gig tatsächlich als ein Showcase begreift, als effektive Möglichkeit, eine Band in kleinem Rahmen zügig kennen zu lernen.
Kanada-Showcase ohne Holzfällerhemden: The Dustin Bentall Outfit. (Foto: Giovanni Mafrici)
Dieses Showcase-Primat ist in Hamburg konsequent umgesetzt. Es gibt Unmengen von ihnen, man kann sich zum Beispiel den ganzen Tag durchweg fantastische kanadische Bands anschauen, die sich im kleinen und immer gut gefüllten Hörsaal auf der Reeperbahn im Dreiviertelstundentakt abwechseln. Oder schwedische oder luxemburgische oder israelische oder … Es ist tatsächlich ein bisschen wie beim ganz großen Bruder in Austin, beim SXSW, dem wohl berühmtesten Festival für Showcases, nur, dass Hamburg halt in Deutschland liegt und sich in den letzten Jahren und mit diesem Reeperbahn Festival zum neuen Einfallstor für internationale Bands etabliert hat, die auch hierzulande Fuß fassen wollen. Dass dieser Ansatz funktioniert, lässt sich schon tagsüber auf dem Spielbudenplatz beobachten, dem Epizentrum des Festivals mitten auf der Reeperbahn. Auch hier spielen Bands auf drei Bühnen, man braucht kein Ticket, um sie sich anzuschauen und die Atmosphäre erinnert tatsächlich ein wenig an das vormalige Kölner Ringfest, das mit der damals noch weltweit wichtigen Popkomm-Musikmesse stattfand und die ganze Stadt erfüllte. Jetzt stehen die Branchenleute des geschrumpften Musikbusiness vor den Showcase-Locations auf der Reeperbahn und machen, was man immer macht mit einem Bier in der Hand: miteinander quatschen; nur dass es ganz neudeutsch jetzt “Networking” heißt. Hier, innerhalb weniger Dutzend Meter, ist der permanente Spagat auch am deutlichsten, den das Reeperbahn Festival erstaunlich gut hinbekommt.
Das fängt beim noch nicht mal ganz fertigen neuen Stahl-und-Glas-Komplex des Tagungshotels ganz vorn an der Reeperbahn an. Zwischen den hohen Türmen pfeift immer ein scharfer Wind, den wohl keine Architekten-Simulation vorausgesehen hat. Früher befand sich hier mal Hamburgs berühmtester Club, das Mojo, und wer – das tut man in Hamburg sonst gern – über Gentrifizierung reden wollte, wäre genau richtig. Aber das schert gerade keinen so richtig, im provisorischen Panel-Zelt diskutiert man über die Zukunft des Musikgeschäfts. Von “verkaufen” redet hier schon fast niemand mehr, im Gegenteil. Denn die Situation hat sich gerade auf fast schon absurde Art gewandelt. Nicht mehr die Musikindustrie hängt hintendran, sondern der deutsche Musikkonsument. Der will immer noch lieber CDs kaufen, statt einfach irgendeine der zahlreichen Musikflatrates zu abonnieren, die es inzwischen gibt. Das Geschäftsmodell “Streamingdienst” kann nämlich für alle Beteiligten – und das sind eben auch die Musiker, die ja gern über geringe Einnahmen jammern – funktionieren, wenn wirklich viele, also mehrere Millionen, Abonnenten Kleingeld beisteuern. Wie lange es dauern wird, bis das aufgeht, mag hier keiner verbindlich abschätzen. Aber dass die Zukunft digital ist, steht außer Frage. Oder?
Analog ist besser: Flatstock-Convention. (Foto: Stefan Malzkorn)
Unmittelbar vor dem Hotel findet man den denkbar analogsten Gegenentwurf: Die “Flatstock”-Ausstellung versammelt Plakat-Künstler, die Kleinstauflagen von Konzertpostern herstellen. Es sind wundervolle Sammlerstücke, für die man schnell mal das Dreifache einer Monats-Musik-Flatrate ausgibt. Und sogar im Konferenzprogramm ist Vinyl ein ernsthaft diskutiertes Thema, jenes “Tonträgerformat”, dem man im Gegensatz zur schnöden CD durchaus eine Zukunft als relevantem Nischenmarkt zutraut. Es ist nicht zu übersehen: Nahezu jede der schon etablierteren Bands hat ihre Alben auch als Vinyl-Version am Merchandise-Stand. Einer der Höhepunkte des Festivals findet gar gleich im Plattenladen statt: The Jon Spencer Blues Explosion haben ihr Equipment zwischen den Regalen “HipHop”, “Electronic” und “Jazz” aufgebaut, im Zardoz, dem sympathischen Second-Hand-Recordshop im Schanzenviertel. Es ist ein Gig, bei dem man – das ist sogar nach den Maßstäben des generell eher weniger Hipster-verdächtigen Hamburger Publikums erstaunlich – kaum einen Jutebeutel sieht, oder gar einen dieser scheußlichen Turnbeutel-Wiedergänger, die man sich in Berlin neuerdings gern über die Schultern hängt, und die sogar beim Reeperbahn Festival als Behältnis für die Festivalunterlagen an alle Akkreditierten ausgegeben werden
Letztendlich passt diese Wieder-Erfindung aber zur Popmusik, die es hier im Überfluss gibt. Die scheint tatsächlich “ausentwickelt”, auch das wird beim Reeperbahn Festival deutlich, dessen jüngere Bands fast ausnahmslos in der Vergangenheit der Siebziger und Achtziger wildern und sich vor allem über die Art definieren, wie sie alle möglichen Einflüsse möglichst schmerzbefreit miteinander vermengen. Im Uebel&Gefährlich hat das den etwas irritierenden Effekt, dass man die Parodie nicht so recht unterscheiden kann von der Kunst. Dass Fraktus, das sehr liebevolle und sehr weit getriebene Spaßprojekt der Hamburger Institution Studio Braun, schlicht abstinkt gegen den Déjà-vu-Faktor von Stabil Elite, der neuen Düsseldorfer Krautrock-Hoffnung. Nur, dass die “echt” sind. Spaß machen natürlich beide, auch das ist das rundum gelungene Reeperbahn Festival in diesem Jahr. Da passt nochmal Heiner Müller: „Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, Heiterkeit. Ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf.“
Jörg Augsburg
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