Aus Klassikern wird Klassik – die Popmusik bildet sich ihren eigenen Hochkultur-Kanon heraus

Diese Woche wird – mit einiger Verzögerung – auch hierzulande das wohl seltsamste in der Reihe von einigermaßen seltsamen Alben der als durchaus exzentrisch bekannten Band The Flaming Lips veröffentlicht: „The Flaming Lips And Stardeath And White Dwarfs With Henry Rollins And Peaches Doing Dark Side Of The Moon“ heißt das etwas umständlich (was bei den Flaming Lips indes auch kaum verwundert) und ist nichts anderes als ein Remake des Pink Floyd-Albums „Dark Side Of The Moon“, eines der Alben, von denen man noch vor einigen Jahren sagen konnte, dass sie in praktisch jeder privaten Ansammlung von mehr als vielleicht 15 LPs auf jeden Fall dabei war. Nun gehört das Prinzip „Coverversion“ von Anbeginn zur Popkultur, kann dem schnöden Kommerzgedanken des Recyclens bekannter Ohrwürmer ebenso dienen wie der eigenen Standortbestimmung im musikalischen Kosmos.

Alben in Gänze neu aufzunehmen, ist indes noch eine bemerkenswerte Ausnahme, vor allem, wenn sich die Intention eben nicht auf eine musikalisch Verfremdung richtet. „Dark Side Of The Moon“ zum Beispiel wurde schon einmal komplett neu eingespielt, als eher obskure Reggae-Version der Easy Star All-Stars. Was die Flaming Lips getan haben, ist etwas anderes: Sie interpretieren ein quasi-symphonisches Werk innerhalb seines ursprünglichen Konzepts, so wie man Beethoven, Mahler oder Wagner immer wieder neu einspielt, nur mit Nuancen an persönlicher Interpretationsfreiheit des Dirigenten oder der Musiker. Es gehört eine gediegene Hörerfahrung und ein umfangreiches Wissen um den kulturellen Kanon dazu, die jeweiligen Interpretationen überhaupt angemessen einschätzen zu können.

Popkultur verfügt inzwischen über einen Backkatalog – man könnte auch sagen: ein Repertoire – an Klassikern, die zunehmend im Sinne des klassischen Erbes begriffen und genutzt werden. Verbunden ist das allerdings mit dem Format „Album“, nicht mit dem ureigenen Pop-Konzept des Single-Hits. Es ist eine Art Konterrevolution wider die Auflösung des seit der Erfindung der Langspielplatte existierenden Gleichgewichts von Hitsingle und Album-„Werk“, ein Rückzugsgefecht gegen die heutzutage technologisch extrem vereinfachte Verfügbarkeit von Einzeltracks, die nicht nur das Geschäft mit Popmusik massiv beeinflusst, sondern auch den kreativen Prozess ihrer Entstehung. Eine gewisse Kurzatmigkeit der herrschenden Track-Versessenheit lässt sich denn auch kaum leugnen. Die breitflächige Wahrnehmung eines Albumschaffens beschränkt sich – abseits der älteren Gewohnheits-Zielgruppe – zunehmend auf einige wenige Edelbands, Arcade Fire sind das aktuelle Beispiel.

Pink Floyd jedenfalls haben sich eben erst gerichtlich versichern lassen, dass sie ihre Alben als unteilbare Kunstwerke ansehen dürfen und ihrer Plattenfirma verboten, daraus willkürlich einzelne Stücke als Download zu verkaufen. (Das erinnert übrigens an die Diskussionen um die – so der Vorwurf – verstümmelten und aus dem Zusammenhang gerissenen „Best of Klassik“-Häppchen einschlägiger Radiosender, die sich so wiederum dem vermeintlich einfacher zu konsumierenden Popformat annähern.) Anzeichen für die Klassifizierung von Pop lassen sich unterdessen vielerorts ausmachen. Was bei einem von vornherein theatralisch gedachten „The Wall“ noch als selbstverständlich erschien, nämlich die 1:1-Aufführung von Alben auf der Bühne, mutet in seiner weitergeführten Konsequenz schon eher befremdlich an. Auf Initiative einer englischen Konzertagentur ATP spielten zum Beispiel Sonic Youth – eine essenzielle Band für alternatives Popmusik-Verständnis – knapp zwanzig Jahre nach Veröffentlichung eine Reihe von Konzerten als Aufführung ihres Schlüsselwerkes „Daydream Nation“. Damit stehen sie neben illustren Namen wie My Bloody Valentine, Iggy Pop & The Stooges oder Spiritualized; gar die Electropunk-Vorreiter Suicide performten ihr erst heute wirklich gewürdigtes Debütalbum live.

Dass überdies Popmusiker zunehmend in Theatern, Opernhäusern oder Konzertsälen auftreten, ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass im Hochkulturbetrieb mit Etats und Honoraren gewirtschaftet werden kann, die im herkömmlichen, marktwirtschaftlich organisierten Konzertbetrieb nicht diskutabel sind. Außerdem gelten derlei Konzerte im lokalkulturpolitischen Subventionierungskleinkrieg immer noch als Nachweis einer Tauglichkeit der Bühnen für jüngeres als das angestammte Publikum und Einstiegs-Konzept. Aber es verdeutlicht auch das Bestreben von Künstlern und Kuratoren – so nennen sich die Veranstalter denn folgerichtig –, Popmusik gewissermaßen aufzuwerten, aus dem niederen Tagesgeschäft des Musikverkaufens herauszulösen und sich einer Werthaltigkeit zu versichern, die so bestimmt nicht der Ursprungsgedanke von Rock’n’Roll war.

Augsburg