Mit seinem letzten Album “The Age Of Adz” setzte Sufjan Stevens neue Maßstäbe in der Popkultur. Am 6. Mai hypnotisierte Amerikas berühmtester Waldorfschüler das Leipziger Centraltheater mit einer Mischung aus unaufgeregtem Schauspiel, brodelndem Musical und visueller Reizüberflutung.

Foto: Rolf Arnold/Centraltheater

Pünktlich zum Einlass befindet sich vor dem Leipziger Centraltheater nicht etwa eine lange Menschenschlange, die Besucher sitzen bereits im großen Saal und warten in bedächtiger Stille auf den Mann, der bereits als “Wolfgang-Amadeus-Mozart des Indie-Rock” gefeiert wurde. Wo sonst die Matthäuspassion, der Zauberberg oder Medea aufgeführt werden, gehört die Bühne am Freitagabend dem amerikanischen Singer/Songwriter Sufjan Stevens und seiner Melange aus Folk-Traditionen, Orchester-Arrangements und elektronischen Beats.

Und wie es sich für eine Schaubühne gehört, darf der Klingel-Countdown nicht fehlen. Das erste Mal: Einige gehen noch rasch auf’s Örtchen. Das zweite Mal: Immer wieder recken die Anwesenden die Köpfe gen Decke, realisieren das Pompöse, das vom Theater ausgeht. Die Spannung ist regelrecht spürbar. Das dritte Mal läutet’s: Jetzt wird’s ernst. Das Personal schließt die Türen zum großen Saal, niemand soll das Geschehen stören. Nur wenige Augenblicke später betreten Sufjan Stevens und seine zehn(!) Mitstreiter die Bühne, darunter DM Stith, der den Abend mit einigen Folk-Songs einleitete. Der 35-jährige Künstler konfrontiert das Auditorium mit neon-farbenen Klebestreifen, die nicht nur ihn, sondern seine gesamte Band (selbst ein Roadie trägt ein leuchtendes Superman-Zeichen auf der Brust) zieren. Surreal strahlt, glänzt und leuchtet das elfköpfige Gespann. Noch stehen alle im Dunkeln, ein durchsichtiger Vorhang versperrt die einwandfreie Sicht. Ein Lichtstrahl durchwandert das Theater und macht bei Stevens halt. Lediglich von einem Banjo begleitet, beginnt dieser mit gespenstig zarter Stimme die ersten Zeilen seiner 2004er Ballade “Seven Swans” ins Publikum zu hauchen. Gänsehaut nach nicht einmal zwei Minuten. Genie, Freak, Ausnahmekünstler oder gar der größte Songschreiber unseres Jahrhunderts – spätestens seit seinem 2005er Opus Magnum “Illinois” wird er mit allerhand Zuschreibungen bedeckt. Wenn die seichte Anfangsatmosphäre urplötzlich durch eine orchestrale Explosion abgelöst wird, sich der Vorhang lichtet und Stevens’ Engelsflügel sich gewaltig aufspannen, wird offenbar: dieser Abend wird unvergesslich.

Foto: Rolf Arnold/Centraltheater

Das Theater als Kulisse hätte besser nicht passen können: Die Show des in Detroit geborenen Multi-Instrumentalisten, der mit einer humorvollen, deutschen Ansprache das Publikum begrüßt, ist unaufgeregtes Schauspiel, brodelndes Musical und visuelle Kunst in einem. Eine kolossale Reizüberflutung, die trotz der Radikalüberforderung vor allen Dingen die Schönheit von Kunst manifestiert. Auf der großen Videoleinwand sind die verstörenden, doch stets kindlichen Bilder des 1997 verstorbenen Künstlers Royal Robertson zu sehen. Dessen Faible für großbusige Amazonen und Bibel-Zitate werden per Dia-Präsenation von Stevens erläutert. Der von Schizophrenie geplagte Robertson war Hauptinspirationsquelle für sein letztes Album “The Age Of Adz“. Passend weisen die Melodien Stevens’ eine gesunde Portion Wahnsinn auf, wabern zwischen depressiver Aufbruchstimmung und manischer Energie. Bei Songs wie “Too Much” oder dem Titeltrack treffen pulsierende Electro-Beats auf Stevens’ sensiblen Gesang, hinzukommen engelsgleiche Chorstimmen. Der, der das Schwert trägt, lautet die Übersetzung seines armenischen Namens und tatsächlich: Mit seinem beeindruckenden Gespür für überfordernde Songs filetiert er die unterschiedlichsten Soundzutaten auseinander. Er reißt Melodien entzwei, schneidet Löcher in Harmonien, lässt diese gelegentlich fallen, um die kurzzeitige Überforderung in eine harmonische Form zu gießen – immer symphonisch, immer pompös und anrührend zugleich.

Foto: Rolf Arnold/Centraltheater

Zwei Gitarristen, zwei Schlagzeuger, ein regelrechtes Orchester-Arsenal aus Harfen, Glockenspiel, Flöten und Posaunen sowie diverse elektronische Effekthaschereien breitet der Tausendsassa während seines über zweistündigen Auftritt aus. Ob Affenmaske, Adlerflügel, Hippie-Sonnenbrille oder ein opulenter Spiegelprisma-Helm – Sufjan erweist sich als experimentierfreudiger Verkleidungskünstler. Doch immer wieder pausiert Stevens, spricht zum Publikum, erklärt sein Mammut-Projekt. So wird “Vesuvius” als Song über Naturkatastrophen angekündigt, dabei spricht er sich in diesem schillernden Track selbst Mut zu, versucht sich gewissermaßen mit seinem eigenen Klang-Experiment zu überzeugen. Stevens ist chronischer Selbstzweifler, doch wer es schafft feinfühlige Vocals mit pochendem Gefiepe zu harmonisieren, muss sich wohl keineswegs schämen. Obschon die Songs seines vergangenen Albums das Grundgerüst des Abends bilden, finden auch klassische Folk-Songs wie das großartige, naturverbunde “The Owl And The Tanager” von der “All Delighted People EP” im Song-Potpourri Platz. Bei den zarten, den hohen Tönen streckt sich Stevens in die Höhe, balanciert lediglich auf den Zehenspitzen. Auditive Katharsis, emotionale Entblößung und visuelle Offenbarung – das volle Programm.

Foto: Rolf Arnold/Centraltheater

Das große Finale besteht aus zwei Akten: Zunächst brennt der Waldorfschüler mit “Impossible Soul” ein wahres Ideen-Inferno ab. In der Mitte des 25-minütigen Monsters heißt es “It’s a long life / only one last chance / couldn’t get much better / do you wanna dance?”. Gesagt, getan: Niemand sitzt mehr im Centraltheater. Die aufgestauten Gefühle und Emotionen werden nun mit Konfetti-Regen, Luftschlangen und gemeinsamen Tanzeinlagen herausgefeiert. Alles klatscht, tanzt und grinst. Die Endorphine sind omnipräsent. Die Folge: Zehn Minuten Standing Ovations. Überwältigt von der Wucht, die Stevens und seine Mitstreiter selbst losgetreten haben, betreten die Multi-Instrumentalisten erneut die Bühne. Drei Lieder gibt es als zusätzliche Darreichung. “Chicago”, ohnehin einer der mitreißendsten Folk-Songs, schließt den Abend. Immer noch vom Live-Gesamtkunstwerk euphorisiert, ergießt sich über die jubelnde Menge eine Armada an bunten Luftballons. Wie im Kindergarten schießen die Bälle hin und her, alle im Saal singen. Freudentränen bei den einen, überschäumende Ekstase bei den anderen. Obwohl klar ist, dass nun Schluss ist, applaudiert das Publikum gewaltig weiter. Was sie hier gesehen und erlebt haben, ist und bleibt unbeschreiblich. Irgendwie nicht von dieser Welt.

Sebastian Weiss