Immer eigen: The Hidden Cameras. Sie vereinen Eighties-Synthies, Wagner-Zitate, Melancholie und Melodie. (K)ein Erklärungsversuch von Sänger Joel Gibb.
Im Video zu “In The NA”, der ersten Single vom neuen Album “Origin: Orphan” toben die Hidden Cameras und einige ihrer Freunde als eine Art verrückte Wissenschaftler oder vielleicht auch Bürokraten verkleidet durch Wälder und Wiesen – gleichsam auf der Suche, wie auf der Flucht vor irgendwas. Nebenbei führen sie, angeführt von Camera-Chef Joel Gibb, noch eine skurrile Choreographie auf. Das alles untermalt von einem Song, der in typischer Weise Melodie und Schrägheit verbindet.
Der Schöpfer von Song und Video, besagter Joel Gibb, sitzt an einem der letzten Sommertage auf der Terrasse einer Berliner Kneipe und will sich so gar nicht auf etwaige Erklärungen zu seiner Kunst einlassen. “Willst du jetzt wirklich über buchstäbliche Bedeutungen reden?” So seufzt er, auf das Coverbild von “Origin: Orphans” angesprochen, das immerhin den Blick auf ein Baby mit sichtbarem Hirn und angebauter Kamera bietet. Das habe, so erklärt er dann doch, schon alles irgendwas mit irgendwas zu tun. Und, ja: Der Anfang des Albums, ein mehrere Minuten andauernder, einzelner Ton (“Ich glaube, Cis“), sei tatsächlich von Richard Wagner inspiriert. Aber insgesamt scheint Gibb die kürzlich in Bezug auf “In The NA” getroffene Aussage, das alles “transzendiere jede Bedeutung“, durchaus so gemeint zu haben – und statt über die Hintergründe seiner Kunst, spricht er lieber und ausführlicher über andere Dinge.
Wie zum Beispiel den Alltag in seiner Wahlheimat Berlin, in der er seit bald einem halben Jahrzehnt lebt – und die er immer noch toll findet: “Man gewöhnt sich nie so ganz daran, denn es gibt immer etwas neues zu entdecken. Und es kommen so viele unterschiedliche Leute hierher – jeder Monat ist anders als der letzte! In Toronto ist es irgendwie immer gleich. Außer, wenn das TIF – Toronto Film Festival – stattfindet.“
An einem Film hat auch Joel Gibb mitgewirkt, als er noch in Toronto, Kanada, lebte – “The Lollipop Generation” heißt der, und ist nach sage und schreibe 13 Jahren inzwischen auch endlich fertig geworden! Auf die Frage, ob es für Regisseurin G.B. Jones nicht schwierig war, in einem Film mit solch langer Herstellungsdauer eine ansatzweise lineare Geschichte zu erzählen, und wie damit umgegangen wurde, dass die Hauptdarsteller möglicherweise von Szene zu Szene um 13 Jahre gealtert waren, blitzt – wie des öfteren während des Gespräches – Joel Gibbs verschmitzter Humor auf: “Die Leute behalten über den ganzen Film hinweg jeweils die gleiche Frisur, es wird also niemandem auffallen.“
Aufgefallen dürften Joel und seine Hidden Cameras einer ungewohnt und möglicherweise im doppelten Wortsinne “breiten” Masse vor zwei Jahren, als sie das musikalische Halbzeitprogramm beim Abschiedsspiel von Bayern-München-Star Mehmet Scholl lieferten: “Ich kannte keinen Fußballer außer David Beckham – und diesen einen heißen Typen aus Schweden. Mehmet kam zu einer unserer Shows in München, war aber zu schüchtern, ‘Hallo’ zu sagen – ließ jedoch ein Trikot da, was ich merkwürdig fand. Ich dachte mir nichts weiter dabei, ich bin kein Fußball-Fan und würde mir nie ein Spiel anschauen. Aber ich schätze Mehmet, und möglicherweise seinetwegen inzwischen auch Fußball ein wenig. Er ist ein Poet, der mit den Füßen arbeitet.“
Joel Gibb ist ebenfalls ein Poet, und zwar einer, der mit so ziemlich allem arbeitet, was er zur Verfügung hat – er gestaltet die Cover seiner Alben selbst, nicht selten gibt es verschiedene Ausführungen davon in unterschiedlichen Auflagenzahlen. Hidden Cameras-Konzerte sind audiovisuelle Vollbedienungen, die Zahl der Leute auf der Bühne variiert, liegt aber gerne im zweistelligen Bereich. Dazu wird an Kostümen und Hintergrundprojektionen nicht gegeizt, Go-Go-Tänzer jeglichen Geschlechts wurden genau so auf Hidden Cameras-Konzerten gesichtet wie der “Münchner Fußball-Chor“.
Da nimmt es auch kaum Wunder, dass auch das neue, je nach Zählweise ungefähr siebte Hidden Cameras-Album “Origin: Orphan” wieder einmal ein bunt gemischtes Töpfchen geworden ist: Eighties-Synthies treffen auf Wagner-Zitate, Melancholie auf Ausgelassenheit, Chaos auf Detailverliebtheit, Melodie auf Tohuwabohu – und glaubt man Joel Gibb, so ist die zum großen Teil in Kreuzberg aufgenommene Platte erst der Anfang einer ganzen Reihe bereits fertig konzipierter und teilweise sogar schon kompletter neuer Hidden Cameras-Alben.
Stephan Behrens
No Comment