Es ist knacke kalt an diesem Montag Abend, an dem eine kleine, jedoch sehr aussagekräftige Gruppe von Leuten zielstrebig die Oberbaumbrücke in Richtung Comet Club überquert. Das Ziel ist klar: So eine Band, die in den 90ern mal irgendwas mit Nirvana zu tun hatte. “Ich glaube, die sind cool!”, murmelt ein spärlich bekleideter und zitternder Gast vor dem Eingang, während er an seiner Sebstgedrehten zieht. Ein weiterer pfeift im Vorbeigehen leicht schief aber doch erkennbar “Son Of A Gun” vor sich her. Vielen ist es vielleicht nicht bewusst, aber tatsächlich werden die etwa 150 Leute im Comet an diesem Abend über 20 Jahre nach Bandgründung Zeuge eines schon längst überfälligen Ereignisses: Der Deutschlandpremiere der wohl unbekanntesten Bekanntheit aus Glasgow, den Vaselines.

Den Abend eröffnet das reizende Duo Schwervon!, das sogar extra aus den Staaten angereist ist, um mit den Vaselines ein paar Konzerte zu spielen. In der Menge vor der Bühne herrscht zu Beginn eine leichte Unruhe, ein Gast neben mir mutmaßt, die Band habe sich sehr gut gehalten und scheinbar nicht so viel gesoffen die letzten Jahre. Sein Begleiter zischt zurück: “Nein, das sind nicht die Vaselines – die sind nämlich schon über 40.” Während dieser kleinen Diskussion beruhigt sich das Publikum und beginnt, tatsächlich konzentriert, der sympathisch zurückhaltenden Band aus Manhattan zuzuhören.

Nicht nur untereinander sehr harmonisch: Matt Roth und Nan Turner alias Schwervon!

Man könnte sie etwa als eine Mischung von entschleunigten Jolly Goods mit der Traurigkeit von Sparklehorse und der Garagengitarre von Mudhoney vergleichen: Was Schwervon! hier auf’s Parkett legen, gefällt dem Berliner Publikum sichtlich sehr und der Beifall überrascht die Beiden. Ein gelungener Einstieg mit einer Band, die man hoffentlich hierzulande noch ein paar weitere Male zu sehen bekommt.

Nach kurzer Umbaupause betreten dann in großer Besetzung die Vaselines die Bühne. Es ist der erste deutsche Bühnenboden nicht nur seit ihrer Reunion 2010 sondern auch überhaupt, denn noch bevor ihr in Szenekreisen als Sensation gefeiertes Debüt 1990 überhaupt erschien, löste sich die Band wieder auf. Im letzten Jahr dann veröffentlichten sie – für viele sehr überraschend – ihr zweites Album “Sex With An X“, das sich stilistisch sehr an ihrem Erstling orientiert. Somit fielen die neuen Songs nicht aus dem Rahmen und ergaben mit den alten Perlen eine sehr verträgliche und wie nicht anders gewohnt überaus unterhaltsame Mischung.

The Vaselines zeigen sich an diesem Abend in sehr guter Laune. Eugene Kelly tritt mit bemüht ernster Miene ans Mikrofon: “Good Evening”. Ohne große Vorrede beginnt die Band in großer Besetzung auf ihre Instrumente einzuschroten. Drei Gitarren, ein Bassist, wie man ihn optisch hätte wohl kaum besser auswählen können (Bobby Kildea von Belle & Sebastian), und ein wild rotierender Drummer, der sich nicht im geringsten von den teils minutenlangen, identischen Linien langweilen lässt. In seinen Augen vernimmt man das wohl größte Funkeln und im Vergleich zu seinen Bandkollegen, legt er auf seinem Schlagzeugschemel an diesem Abend wohl den größten Weg zurück.

Es ist schon manchmal sehr erstaunlich, wie sich Klischees über so viele Jahre halten können. Eugene Kelly und Frances McKee, die der Überlieferung nach ja angeblich größten Einfluss am Namen der Cobain-Tocher hatte, beweisen einmal mehr, dass man noch immer herzhaft über langbärtige Sexwitze und sonstige spaßige Bettgeschichten lachen kann. Sie verpacken das äußerst gut, haben Spaß an ihren Songs, geben sich als Liveband sehr ehrlich und überzeugend. Vor allem die subtile Ader der beiden verleiht dem Abend eine große Portion Humor.

“Molly’s Lips” – links im Bild übrigens Schwervon!, die sich an der obligatorischen Tröte versuchen. (nachzuvollziehen »hier)

Das Publikum taut Stück für Stück weiter auf. Die Stimmung wird ausgelassener. Man entdeckt sich in einem alternativen Sympathisantenkreis in Mitten von Holzfällerhemden, ein paar Cobainfrisuren und Sub Pop-Shirts. “Son Of A Gun”, “Jesus Wants Me For A Sunbeam” und “Molly’s Lips” werden fast am Stück zum Besten gegeben. Eigentlich kann man es für den Moment kaum fassen, dass es sich nicht um ein weiteres von über gefühlt tausend Imitaten handelt, sondern wirklich von den Urhebern stammt. Der Applaus, die Freude ist groß. Die Publikumsnähe der Band ebenfalls, es werden Fragen gestellt, ausgiebig diskutiert und gelacht. Sehr ausgelassen, entspannt und vor allem sympathisch geht es an diesem Abend zu.
Nach einem sehr ausführlichen Set von etwa 16 Songs verlässt die Band die Bühne. Eine Zugabe gibt es natürlich noch. “You Think You’re A Man” wird kräftig in die Länge gezogen, die vorderen drei Reihen fangen das erste Mal richtig an zu tanzen. Der etwas unscheinbar wirkende Gitarrist am linken Bühnenrand hat seine große Stunde, experimentiert sehr ausgelassen mit seinem Wah-Effekt, während sich Eugene und Frances brav mit dem Gesang abwechseln. Es sind etwa sechs Minuten, in denen sie die vier Akkorde des Songs gebetsmühlenartig wiederholen. Dieser Minimalismus macht seit jeher diese Band aus; dass man sich mit nur ein paar Akkorden und einer handvoll Textzeilen auf eine Bühne stellen kann und dabei immer noch den nötigen Ernst bewahrt. Ob sie es jemals aus der Insiderversenkung schaffen werden, ist an dieser Stelle unerheblich. Für diesen Abend hatten sie für eineinhalb Stunden so etwas wie Legendenstatus.

Sogar ihren Merch verkaufen die Vaselines noch selbst. So hatten viele Leute aus dem Publikum, die nach dem Konzert unverzüglich zum T-Shirt- und CD-Stand stürmten noch die Gelegenheit, einen kleinen Plausch mit Frances zu halten, während diese gemeinsam mit einer weiteren Frau in großen Kartons wühlte, um passende Shirt-Größen zu finden. Sogar signiert werden die Platten und ein freundliches Lächeln und ein “thanks for coming around” gibt es auch noch auf den Weg. Sicher wäre eine Deutschlandpremiere dieser Band vor 20 Jahren wohl mehr gefeiert worden. Doch trotzdem war es ein schöner Abend, eine etwas verhaltenere Party. Dafür gab es auch keinen Kater am nächsten Tag. Am Ausgang läuft “Son Of A Gun” pfeifend der Kollege vom Beginn des Abends an mir vorbei. In seiner Hand ein T-Shirt und “Sex With An X”. Er wird sicher seine Freude damit haben.


Text: Alex Beyer
Fotos: Peter Pollmann