Mit einem Anti-Gen im Gepäck melden sich Tocotronic zurück. Ihr neues Album hat die Band “Kapitulation” getauft und ist nicht müde geworden, sich über die Zustände unserer Zeit zu beschweren. Wir trafen Schlagzeuger Arne Zank und Bassist Jan Müller in einem Berliner Café und erfuhren Überraschendes bezüglich des neuen Manifests.
Bei vielen wurde euer letztes Album “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen” als Neubeginn gewertet. Wie ist eure Meinung zwei Jahre später dazu?
Jan: Jede Platte ist für uns etwas Neues. Es schreibt sich vielleicht für Journalisten gut, gerade ein bestimmtes Album für einen entscheidenden Punkt innerhalb einer Entwicklung zu betiteln, aber ich kann dem so nicht zustimmen.
Arne: Wir könnten gar nicht mehr in dieser Band spielen, wenn man nicht jedes ältere Werk in Frage stellen würde und sich neu zu finden versucht. So klischeehaft es auch klingt, aber dieser Gedanke geht jeder Platte voraus.
Trotzdem gab es bei den Interviews zum letzten Output eine überraschende Aussage, die ihr getroffen habt: Arne sah in Tocotronic eine Band “voller Zweifel und Skrupel”!
Arne: (überlegt) Ich denke, wir haben schon immer sehr kontinuierlich gezweifelt. Es wurde ja oft von einem Bruch bei Tocotronic mit unserem Album “K.O.O.K.” geredet. Da hatten wir uns eine Veränderung als Aufgabe gemacht, und natürlich hinterfragt man einen solchen Schritt, denkt viel darüber nach. Ansonsten ist der Zweifel eher ein steter Begleiter in Form einer gewissen Selbstkritik.
Jan: Das ist ja auch ein wahnsinnig wichtiger Teil im künstlerischen Schaffen allgemein. Ohne dieses Element erreicht man gar nichts.
Womit wir zum neuen Album “Kapitulation” kommen. Das habt ihr vor Veröffentlichung als Manifest bezeichnet. Ziemlich pompöse Umschreibung, oder?
Jan: Das Wort Manifest ist eher aus der Not heraus geboren. Ich finde es eben immer schwierig, die Kunst zu erläutern – vor allem, wenn es die eigene ist. Deswegen dachten wir uns, warum sollten wir die Kunst nicht mit der Kunst erklären!
Arne: Natürlich ist das ein hochtrabender Begriff, genau wie “Kapitulation” selbst. Daher finde ich es auch ganz lustig, wenn man schon so einen schweren Albumtitel hat, die Schraube noch ein bisschen weiter zu drehen und einfach mal zu Übertreiben.
Durchzogen wird das Album von einer Stimmung, die den Ruin als persönlichen Triumph bezeichnet. Sehr überraschend, wo ihr auf eurem letzten Werk noch den Kampf gegen die pure Vernunft gefordert habt?
Arne: Ich weiß eigentlich gar nicht wo da ein Widerspruch ist! Das ist doch ein ganz stringentes Thema, dass man auf der einen Seite den Sieg purer Vernunft verhindern will… (überlegt) Die “Kapitulation” ist dann die völlige Aufgabe und Unterwerfung. Beim Titelstück ging es uns zum Beispiel darum, den Hörerinnen und Hörern zu sagen: Wenn bei euch diese oder jene ausweglose Situation eintritt, dann kapituliert. Klar, das klingt paradox. Aber es geht auf “Kapitulation” eben nicht darum, den Leuten zu empfehlen, dass ihr Glaube stärker werden soll, sondern genau diesen sie sollen einfach wegschmeißen. Deswegen kann ein Ruin auch ein Triumph sein!
Jan: Solche Widersprüche liegen uns einfach sehr am Herzen. Es ist immer interessant zu sehen, was sich daraus entwickelt.
Musikalisch wirkt “Kapitulation” dank eines Krachers wie “Sag Alles Ab” und Elegien à la “Imitationen” wie ein Schulterschluss mit der gesamten Entwicklung Tocotronics!
Arne: Den Eindruck haben wir diesmal auch. Es bilden sich ja immer Schlaufen und Kreise, die gewisse Dinge wiederholen.
Jan: Aber das hatten wir bislang eigentlich bei jedem Album. Dieses Gefühl von einem Fazit unter dem bisherigen Schaffen. Ich glaube, dass “Kapitulation” sehr vielfältig geworden ist, obwohl wir eigentlich Fans von der Idee sind, dass ein Album völlig durchlaufen muss. Solche Platten mag man als Hörer ja auch ganz gerne.
Ändert sich dadurch irgendetwas für euch im Verhältnis zu früheren, teilweise sehr ruppigen und direkten Tocotronic-Alben?
Jan: Es ist jetzt schön, wenn wir unser Konzertprogramm vorbereiten und die so genannte Setlist zusammenstellen. Da haben wir schon gesehen, wie sehr die Stücke von “Kapitulation” mit älteren ineinander greifen.
Arne: Bei unseren ersten Konzerten zur aktuellen Platte hatten wir ziemlich viel Spaß an dieser Erfahrung. Es ist eben einfacher als noch mit unserem selbstbetitelten Album vor ein paar Jahren, definitiv.
Zum Schluss würde ich gern wissen, ob folgendes Blumfeld-Zitat auch für euch stimmen könnte: “Tok, Tok, Tok, Ich wohn im Off” vom letztjährigen “Verbotene Früchte”.
Jan: Ich glaube dazu haben wir 1999 schon Stellung bezogen, als wir auf unserem Album “K.O.O.K.” unsere Außenseiterrolle mit dem Song “Jackpot” beschrieben: Wir sind raus und wir sind stolz darauf!
Arne: Damit ist dies schon geschehen. Wir sind raus aus der Geschichte und längst auf dem Mond gelandet. (lacht)
Text + Interview: Marcus Willfroth
Tocotronic Video – Kapitulation
Tocotronic auf Festival-Tour:
02.6. Neustrelitz – Immergut Festival
08.6. CH-Zürich – Zürich Open Air
13.7. Geretsried – Sonnenrot Festival
14.7. Dessau – Melt!
20.7. A-Feldkirch – Poolbar Festival
22.7. Lörrach – Stimmen 07
27.7. Berlin – Berlin Festival
15.8. A-Salzburg – Frequency Festival
18.8. Hamburg – Dockville Festival
24.8. Rostock – Kastanienplatz Open Air
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