Großes Brimborium wie immer, die unvermeidliche Lady-Gaga- Show und einige interessante Überraschungen: die diesjährigen Grammy Awards. 

Wer zur Hölle hat sich da den Grammy für das beste Album unter den Nagel gerissen?

Barbra Streisand war auch da, eine eigene Topmeldung war ihr rarer Auftritt den Veranstaltern allemal wert. Gewonnen hat sie trotzdem nicht, in der Schnulzen-Kategorie „Best Traditional Pop Vocal Album“ nahm der deutlich weniger legendäre Michael Bublé den Grammy mit. Ein denkwürdiger Moment wäre es gewesen, wenn gleichzeitig „Barbra Streisand“ als „ Best Dance Recording“ nominiert gewesen wäre, der gerade allgegenwärtige Smash-Hit von Duck Sauce, dem Projekt des Houseklopper-Veterans Armand van Helden. Aber der ist im Oktober 2010 erschienen und war damit gar nicht im Rennen. „Best Electronic/Dance Album“ ist hingegen „La Roux“ geworden, zweifelsfrei ein Hitalbum, aber inzwischen gut anderthalb Jahre alt und nach normalen Pop-Kriterien also nichts anderes als hornalt.

Es gibt eine Menge Kritikpunkte an den Vergabekriterien des weltweit als am Wichtigsten erachteten Musikpreises. Das Zeitfenster der jeweils gewürdigten Veröffentlichungen – Oktober des Vorvorjahres bis September des Vorjahres – gehört zu den meisterwähnten, sorgt für Verzerrungen, die angesichts der Schnelllebigkeit des Mediums Popmusik schlicht anachronistisch wirken. Die Vielzahl der mitunter obskur feindifferenzierten Kategorien – 109 waren es in diesem Jahr – zählt auch dazu, ebenso wie die schwer nachvollziehbare Nominierungspolitik und die oftmals auch nach halbwegs objektiv veranlagten Maßstäben streitbare Gewinnerwahl – selbstredend eine Gemeinsamkeit aller möglichen Verleihungen, die hier aber immerhin nicht an reine Verkaufszahlen gekoppelt, sondern eine freie Wahl ist. Obendrein sind die Grammys, auch wenn das im Gegensatz zu den Oscars nicht offiziell postuliert wird, extrem US-zentriert, spiegeln einen Markt, der sich nur teilweise mit dem europäischen überschneidet. Im Gegensatz zu den immer wieder gern als Maßstab zitierten Oscars sind die Grammys im Normalfall auch nicht wirklich wichtig für das Tagesgeschäft der Plattenfirmen. Klar, die schicken dann Erfolgsmeldungen raus und schmücken das nächste Presseinfo einer Veröffentlichung mit dem Status „Grammy Gewinner“ – aber kein Mensch kauft sich hierzulande normalerweise deshalb auch nur ein Album mehr. Zumindest dachte man sich das bisher.

Da steht er nun der arme … Justin Bieber. “Seinen” Grammy hat … 

Dieses Jahr könnte es ein bisschen anders sein. In einigen der Schlüsselkategorien verblüffte die Wahl und rückte damit Musiker in Blickfelder, die vorher – je nach Musikvorliebe und Herkunft – kaum wahrnehmbar waren. Im Guten wie im Schlechten. Das fängt bei der hierzulande einigermaßen unbekannten Band Lady Antebellum an, einem selbst für Nashville-Verhältnisse grauenhaft glattgebügelten Countrypop-Trio, das sich als US-Mainstream-Act millionenfach verkauft und jetzt auch der Grammy-Top-Abräumer ist. Geradezu antipodisch dagegen die Kür des „Album des Jahres“. Ausgerechnet die kanadischen Vorzeige-Indierocker Arcade Fire wurden gekürt. Deren „The Suburbs“ war zwar vorher in praktisch allen herkömmlichen (also: Gitarrenmusik-affinen) Redaktions- und Publikumspolls der ernstzunehmenden Musikmedien selten eindeutiger Konsenssieger, allerdings ließ sich die ausrichtende National Academy of Recording Arts & Sciences bis jetzt von derlei Musiknerd-Schnickschnack noch nie beeinflussen. Die Verblüffung ist auf allen Seiten enorm. „Wer zur Hölle sind diese Arcade Fire?“, war eine der meistgestellten Fragen, die Twitter zum Thema zu bieten hatte. Der gemeine Indie-Nazi hingegen, der vielleicht noch nicht realisiert hat, dass Arcade Fire inzwischen ein multiinternational ertragreiches Projekt und damit eine Art Gelddruckmaschine für ihr Label sind, könnte sich ein wenig verarscht vorkommen, angesichts der Tatsache, dass das Flaggschiff der Szene jetzt auch noch dem letzten Frühnachrichtenhörer bekannt sein dürfte.

… ihm Esperanza Spalding vor der Nase weggeschnappt. Die sieht nicht nur besser aus.

Die eigentliche Überraschung – und ein noch deutlicherer Wink in Richtung eventueller Entwicklung der Grammys hin zu mehr musikalischer Relevanz – ist die Abservierung des Teenie-Idols und Nervfaktors Nummer eins des letzten Jahres: Justin Bieber. „Best New Artist“ wurde stattdessen Esperanza Spalding, eine tatsächlich hochtalentierte und in amerikanischen Jazzkreisen auch hochgehandelte Sängerin mit Charisma und großer Zukunft – unter den Nominierten allerdings die absolute Außenseiterin. Jetzt ist sie obendrein auch noch die erste Jazz-Künstlerin überhaupt in dieser aus Musikliebhabersicht normalerweise eher lästigen Kategorie. Derlei versöhnt einen dann vielleicht doch wieder ein bisschen mit dem alljährlichen Branchenzirkus und den wohl noch auf einige Zeit unvermeidlichen Lady Gaga-Inszenierungen. Wenigstens bis zum nächsten Jahr.

Augsburg