Ein Gespenst geht um in Deutschland – die “Emoisierung”. Bernd Begemann möchte sie am liebsten stoppen, wie sich im Interview mit motor.de herausstellte.

Die Songs von Bernd Begemann rangieren zwischen halbernst gemeinter Spaßmusik und detailgetreuen Momentaufnahmen des Alltags. Am 2. September veröffentlicht der kauzige Hamburger sein neues Album “Wilde Brombeeren”. Nach eigenen Aussagen hatte der 48-Jährige schon einmal eine Phase, in der er zehn Monate mit niemandem (außer den Leuten an der Aldi-Kasse in seinem Viertel) gesprochen hat. Das ist heute zum Glück nicht mehr der Fall. Heute ist er dagegen kaum zu bremsen, vor allem seinen Unmut über die aktuelle deutsche Popkultur ließ er im Gespräch mit uns freien Lauf. Dabei bekamen alle ihr Fett weg, die gerade den Hut auf haben. Vor allem auf Casper ist der Herr “sehr gut” zu sprechen. Über seine Musik, das Leben in Hamburg und in Vergessenheit geratene Manieren in der Musikkultur – Bernd Begemann im motor.de-Interview.

motor.de: Aus aktuellem Anlass: Amy Winehouse ist gestorben. Tangiert dich so etwas?

Bernd: Natürlich ist es immer ein Verlust, wenn jemand stirbt, besonders nach so einem Leben. Was mich derzeit aber viel mehr beschäftigt, ist die deutsche Populärkultur. Ich finde, das ist wirklich die schlimmste in Europa. Es ist einfach schade, dass es Leute gibt, die Lotto King Karl und Unheilig hören. Natürlich ist das mies, weil ich nicht der Typ sein möchte, der immer nur gegen etwas ist, aber kein anderes Land der Welt lässt sich so einen Müll in seinen Popsongs gefallen wie wir. Und dass wir Emo-Rapper wie Casper haben, das ist ja schon schlimm genug, aber die Broilers als Emo-Skaband – also irgendwann hört es doch auf, oder?

motor.de: Es hören ja nun auch nicht alle Broilers und Unheilig.

Bernd: Mich stört diese Gleichgültigkeit. Das wäre doch mal ein Punkt, um zu diskutieren: Wieso sind schwülstige, wehleidige Sachen so populär? Ewigkeit und Zeit, das sind Worte, die man sich erst verdienen muss. Wenn Tokio Hotel vom Ende der Zeit singen, können sie das ja nicht mit Kompetenz tun, denn sie waren ja nicht da. In Amerika nennt man das 50$-Words und sie sind zu Recht verpönt. Solche großen Worte sollte man nicht benutzen, wenn man es vermeiden kann. Aber hier ist die Auffassung offenbar, wenn man ein Lied über ein großes Thema macht, wird es auch ein großes Lied.

motor.de: Und deine Musik dagegen?

Bernd: Meine Lieder sind diesseitiger und passen deshalb wohl nicht in den Alltag der Menschen. Ich würde sagen, ich verwandle das Hier und Jetzt in etwas Betrachtenswertes. Ich mache ein interessantes Drama aus Dingen, die nicht beachtet werden. Dafür benutze ich eine gewählte Sprache, die sich nicht selbst aufbläht.

Bernd Begemann – “Die neuen Mädchen sind da”

motor.de: Was ist denn mit der Kultur daneben?

Bernd: Als MotorFM in Hamburg war, war das eine willkommene Abwechslung. Auf NDR 2 kommt immer nur Phil Collins. Das ist einfach kein Leben. Hamburg ist so eine wichtige Musikstadt und wir haben keinen guten Musiksender. Eine andere Anekdote: Letztes Jahr war das 50-jährige Jubiläum der Beatles in Hamburg und die Stadt hat nichts gemacht. Dabei ist das doch ein signifikantes Datum: das erste Mal, dass die Beatles im Ausland gespielt haben. Damals war Hamburg noch eine der wichtigsten Musikstädte der Welt, das Experimentierlabor, wo die 50er- die 60er-Jahre wurden. Aber anstatt etwas dazu zu machen, baut Hamburg die Elbphilharmonie, damit die Frauen der Senatoren ihre Abendgarderoben vorführen können. Dabei wissen die meisten Leute doch nur drei Dinge: es gibt einen Hafen, die Terrorbomber kommen her und die Beatles haben hier gespielt. Sehr viel mehr weiß man nicht über diese Stadt weltweit und man will ja nicht nur wegen der Terrorbomber bekannt sein, oder?

motor.de: Sprechen wir mal über deine Musik. Welche Songs von früher sind heute noch aktuell und welche neuen Songs hättest du auch schon früher schreiben können?

Bernd: Die meisten sind aktuell geblieben. Ich kann alle meine Lieder noch spielen und mache das auch. Aber ein Lied wie “Du musst dich schämen für deinen Ziegenbart” ist natürlich veraltet, weil heute keiner mehr einen Ziegenbart trägt. Das ist halt so, wenn man über tagesaktuelle Dinge schreibt. Die Künstler, die mich inspiriert haben, fragen sich eigentlich zwei Dinge: Was ist die Höhe der Zeit? Was hat sich verändert? Was ist gleich geblieben? Wenn man diese Fragen wahrhaftig beantworten kann, ist das ein Kunstwerk, würde ich sagen.

motor.de: Wie betrachtest du im Rückblick deinen Werdegang als Musiker?

Bernd: Das tolle an Liedern ist, dass sie nicht linear sind. Sie halten einen Augenblick fest. Auf einmal kannst du etwas genau betrachten, du kannst um ein vages Gefühl herumschreiten wie um eine Skulptur. So geht es mir auch in meinem persönlichen Empfinden: Ich antizipiere sowohl den achtjährigen Jungen, der ich mal war, als auch den 70-Jährigen, der ich mal sein werde. Ich glaube, dass das Auftreten der Nichtlinearität eine der größten Veränderungen in den letzten 100 Jahren ist. Allein die Möglichkeit der Aufzeichnung, oder dass mal die ganze Familie im selben Zimmer geschlafen hat. Das ist alles relativ neu und ermöglicht eine andere Art von Selbstreflektion. Früher war es bestimmt schwerer für die Menschen, sich als Individuum zu begreifen.

motor.de: Lass uns über dein neues Album sprechen, es kommt ja Anfang September in die Läden. Was möchtest du am meisten hervorheben?

Bernd: Es gibt so einige Sachen, auf die ich stolz bin. “Weil wir weg sind” beispielsweise ist ein Rocksong, aber ohne Rockinstrumentierung. Ich finde, das geht sehr ab, obwohl nur eine einzige Gitarre dabei ist, nämlich eine Wandergitarre für 50 €, die man in jedem Kinderzimmer findet. Dass man es schafft, ein Lied mit so einem reduzierten Klangkörper so abgehen zu lassen, darauf bin ich dann als Handwerker stolz. Programmierte Musik kann natürlich auch großartig sein, aber meine Lieblingsaufnahmen der Musikgeschichte sind die, wo man das Gefühl hat, dass gerade etwas gewagt wird. Jeder kann heute einen Electro-Track bauen, aber Leute zum Lachen oder Weinen zu bringen, ist echt schwer. Das ist jedenfalls ein Ziel von mir. Ein anderes wäre, ein Volkslied zu schreiben.

motor.de: Wo wir schonmal bei Veränderungen sind – sind Stadionhymnen die heutigen Volkslieder?

Bernd: Ja, irgendwie schon. Wer hätte gedacht, dass das Riff von “Seven Nation Army” ein Volkslied wird. Ich bewundere dagegen Lieder wie “Die Gedanken sind frei”. Das ist herausfordernder als alles, was ich gerade in den deutschen Charts sehe. Leute wie Casper, ich weiß gar nicht, worauf die hinauswollen. Ich habe mich wirklich mit seinen Liedern beschäftigt und musste feststellen, dass ich Emo zutiefst ablehne. Dafür gibt es ein anderes Wort: Hospitalismus. Man zeigt seine Gebrechen und will dann dafür belohnt werden. Das ist für mich ein moralisches Problem. Wenn man keine Probleme hat, sollte man nicht künstlich welche schaffen. Ein verantwortungsvoller Künstler würde dir stattdessen Wege aufzeigen, zu agieren. Man muss doch Verantwortung für das eigene Leben übernehmen und für sich selbst sprechen. Ich werde jedenfalls nicht wimmernd in der Ecke sterben, bloß weil es für andere vielleicht praktischer ist.

Interview: Claudia Jogschies